Kopfweh, Übelkeit, Erbrechen. Dorothée Schupp leidet seit der Pubertät an extrem starker Migräne. Über 15 Anfälle im Monat erleidet die Pflegefachfrau – bis hin zur Bewusstlosigkeit. Doch nun gibt es Hoffnung: Ein neues Medikament konnte die Attacken reduzieren.

VON CHRISTIAN FRANZOSO, Redaktor Gesundheitheute

Sie erkannte die Menschen um sich herum nicht mehr. Sie hörte Stimmen, wusste aber nicht, wer sprach. Ein Krankenwagen war da, aber sie konnte nicht erkennen, wer im Gewusel gerade was machte. «Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war», erinnert sich Dorothée Schupp an den ersten, starken Migräneanfall, der sie während der Pubertät überfiel. Er dauerte ganze drei Tage. «Der tiefe Schmerz hinter den Augen war unerträglich.» Die 14-Jährige musste sich mehrere Male übergeben, bis sie bewusstlos wurde – und bis die Notfallärzte sie mit Blaulicht ins Spital fahren mussten.

Migräne-Ursachen sind nicht restlos geklärt

Seither gehören Migräne-Anfälle zu Dorothée Schupps Leben wie das Amen in der Kirche. Oder wie die Piroggen zu Polen. Denn die 48-Jährige wuchs im Süden des osteuropäischen Landes auf, nahe der ukrainischen Grenze, «wo die medizinische Versorgung gleich null ist». Computer-Tomographie? «Gabs bei uns in der Region nicht.» Mittlerweile hat sie sich an ihr Leiden gewöhnt. «Ich nehme es positiv und mache das Beste daraus», sagt Schupp, die mit einem Schweizer verheiratet ist und im Aargau lebt, und lacht dabei herzlich. «So kann ich besser damit umgehen.»

Wieso Dorothée Schupp an Migräne leidet, ist bis heute unklar. Überhaupt ist nicht restlos geklärt, wieso eine Migräne entsteht. «Wir wissen, dass sie durch viele verschiedene Faktoren bedingt ist und dass es eine genetische Veranlagung gibt», sagt Neurologe Andreas Gantenbein, bei dem Schupp seit mehreren Jahren in Behandlung ist. Migräne kann also vererbt werden. Auch Dorothée Schupps Mutter leidet seit Jahren an starkem Kopfweh, das aber bei weitem nicht so intensiv wie ihr eigenes sei, sagt die gebürtige Polin.

Dorothée Schupp
Seit der Pubertät leidet Dorothée Schupp unter Migräne: Mit bis zu 17 Attacken pro Monat. Trotzdem musste die Pflegefachfrau bisher ihre Arbeit nur einmal abbrechen.

Kein psychisches Problem

Lange ging die Wissenschaft davon aus, Migräne sei ein psychisches Problem. Bis man herausfand, dass es zwar ein Hirnproblem ist, es sich aber um eine neurologische Funktionsstörung in der zentralen Schmerzverarbeitung im Hirn handelt. 15% – 20% der Bevölkerung leiden regelmässig an Migräne. Der Schmerz kann pochen, stechen, pulsieren, drücken, mit oder ohne Übelkeit und Erbrechen auftreten und periodisch wiederkehren. Bei einer Attacke leiden viele Betroffene zudem an Licht- oder Geräusch-Überempfindlichkeit und an Sehstörungen. «Migräne ist ein komplexes Krankheitsbild», so Andreas Gantenbein. Im Erwachsenenalter tritt sie hormonbedingt bei Frauen etwa dreimal so häufig auf wie bei Männern. «Vor der Pubertät und nach der Menopause ist die Anzahl Migräniker zwischen den Geschlechtern ausgeglichen.»

Bis zu 17 Attacken pro Monat

Dorothée Schupp hatte schon als Kind sehr oft starkes Kopfweh. Nach der Pubertät setzten die Migräne-Attacken ein – bis zu 17 Mal im Monat. Es kam auch schon vor, dass sie eine Woche am Stück dauerten. Weder die erste Computer-Tomographie in der Schweiz noch die Röntgenbilder der Halswirbel bringen Aufschluss. Und weder Migränemedikamente für die Akutbehandlung noch Betablocker oder Antiepileptika, die prophylaktisch gegen Migräne wirken, lösen das Problem. Physiotherapie? Dito. Schupp versucht es zudem mit Akupunktur. Vergeblich. «Man fühlt sich machtlos.»

Die schlimmsten Anfälle, es sind rund die Hälfte, entstehen bei Schupp während der Nacht. Sie erwacht dann mit sehr starkem Kopfweh. Unter diesen Umständen ist es schwieriger, die bereits bestehenden Schmerzen medikamentös zu behandeln. Ist sie hingegen wach, geht es einfacher. «Entscheidend ist eine möglichst frühe Einnahme der Triptane, der Wirkstoffe für die Akutbehandlung der Migräne. Am besten sofort, wenn erste Anzeichen einer Attacke auftreten», sagt Andreas Gantenbein.

Die Schmerzen entstehen bei Dorothée Schupp immer in der hinteren Seite des Kopfs und im Nacken und strahlen nach vorne hinter die Augen aus. Dem geht ein Kribbeln in den Händen und Armen voraus. Während der Menstruation sind die Schmerzen noch intensiver. Um sie zu lindern, hat Schupp ihre eigene Methode entwickelt: Nach der Einnahme von Migräne- und entzündungshemmenden Medikamenten setzt sie sich mit einem Coldpack auf dem Nacken auf ihr Sofa und legt den Kopf seitwärts auf die Lehne oder lehnt ihn an die Wand. Manchmal verharrt sie bis zu drei Stunden in dieser Stellung. Ist sie nicht erfolgreich, wiederholt sie das ganze Prozedere.

Oder Dorothée Schupp geht spazieren. Langsame Bewegungen haben bei ihr nämlich zur Folge, dass sich der Schmerz verteilt und abschwächt. «Nach besonders starken Anfällen bin ich körperlich so ausgelaugt wie nach einer starken Grippe. Danach kann ich nicht einmal mehr die Wäsche machen.» Ihr Bluthochdruck ist in diesen Situationen schon mehrmals auf lebensgefährliche 220 angestiegen. Und die Schmerzen sind zuweilen so stark, dass sie bewusstlos wird und regelmässig im Notfall landet. Einmal spritzten ihr die ratlosen Ärzte sogar mehrmals Morphium in den Hinterkopf, was auch nur vorübergehend half.

Dr. Andreas Gantenbein,
Chefarzt Neurologie
RehaClinic Bad Zurzach
Dr. Andreas Gantenbein, Chefarzt Neurologie RehaClinic Bad Zurzach

Laut Andreas Gantenbein kann aus seiner Migräne auch ein Migräneschlaganfall entstehen. Dies sei jedoch sehr selten der Fall. Und die Migräniker, die an einer Migräne mit Aura (siehe Box) leiden, haben ein erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt. Untersuchungen haben gezeigt, dass einige Migräniker vermehrt Narben im Hirn aufweisen, sogenannte mikrovaskuläre Veränderungen. «Grundsätzlich ist Migräne aber eine gutartige Erkrankung», sagt Gantenbein. «Die Lebenserwartung von Migränepatienten ist gleich hoch wie die der Normalbevölkerung.»

Die IV kommt für Schupp nicht in Frage

Dorothée Schupps Kampf gegen das Kopfweh zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Ein ehemaliger Hausarzt will der Pflegefachfrau wegen der Intensität ihrer Migräne gar die IV verschrieben, doch sie weigert sich: «Auf keinen Fall», sagt Schupp resolut. «Das kam für mich nicht in Frage.» Trotz der Anfälle und stationären Spitalaufenthalte musste sie bis anhin nur einmal in ihrer Arbeit eine Spätschicht gezwungenermassen abbrechen, weil sie während des Erbrechens bewusstlos wurde und zwecks medizinischer Überwachung die Nacht im Spital verbringen musste. Sonst habe sie keinen einzigen Tag auf der Arbeit gefehlt: «Meine Aufnahmefähigkeit ist zwar verlangsamt, und ich muss mich sehr konzentrieren, aber ich kann arbeiten.» Wenn Dorothée Schupp ihren Patienten Medikamente abgibt, werden diese zur Sicherheit von ihren Arbeitskollegen kontrolliert. Auf der Station sind alle Mitarbeiter über Schupps Leiden informiert.

Auch private Termine werden nicht abgesagt oder verschoben. «Zu 99% habe ich immer alles durchgezogen», so Dorothée Schupp, die weder lärm- noch lichtempfindlich ist und die auch keine Wahrnehmungsstörungen hat, wie dies bei anderen Migränikern oft der Fall ist. Aber manchmal könne sie nur hoffen, dass die Migräne sie nicht an einem Tag mit einem wichtigen Ereignis übermanne – wie beispielsweise an der eigenen Hochzeit. «Das war zum Glück nicht so», sagt die zweifache Mutter und lacht laut und herzlich. Ihre Tochter, 19, und ihr Sohn, 16, unterstützen sie nach Kräften, wenn sie migränebedingt ausser Gefecht ist. Die Kinder kennen es nicht anders.

Die beiden Schwangerschaften verliefen dabei komplett unterschiedlich. Als Schupp mit ihrer Tochter schwanger war, setzten während dieser Zeit die Migräneanfälle aus. Bei ihrem Sohn hingegen waren sie sogar schlimmer. Dafür muss sich Dorothée Schupp, nachdem ihr Sohn auf die Welt gekommen ist und seit sie mit einer Spirale verhütet, nicht mehr übergeben.

Ob Bub oder Mädchen, für Neurologe Andreas Gantenbein spielt das Geschlecht des Kindes während der Schwangerschaft keine Rolle. «Oft ist es so, dass während der stabilen Phase, also während des zweiten und dritten Drittels der Schwangerschaft, viele Migränikerinnen beschwerdefrei sind.» 25% der betroffenen Frauen hingegen empfinden keine Veränderung der Attackenhäufigkeit.

Ein neues Medikament verschafft Hoffnung

Durch Andreas Gantenbein nimmt Dorothée Schupp seit über einem Jahr an einer Medikamentenstudie teil. Seither erhält sie einmal monatlich eine Spritze des neuen Migränemedikaments Erenumab. Dessen Wirkstoff ist ein Antikörper, der ein körpereigenes Eiweiss (Calcitonin Gene-Related Peptide oder CGRP) blockiert, das bei Migräne eine zentrale Rolle spielt und Schmerzen auslöst. Das Medikament ist seit diesem Sommer in der Schweiz zugelassen und wurde als erstes prophylaktisches Migränemedikament entwickelt, das sowohl bei chronischer als auch episodischer Migräne die Schmerzattacken bei Patienten senken – und sogar verhindern soll. «Es ist teuer. Die Kosten belaufen sich erwartungsgemäss auf 500 bis 700 Franken pro Spritze», so Gantenbein. Wie es die Krankenkassen vergüten werden, ist zum Zeitpunkt dieses Interviews noch nicht geklärt.

Zu Beginn scheint auch dieses Medikament bei Dorothée Schupp nicht zu wirken. Doch sie will die Teilnahme an der Studie trotzdem durchziehen – für die Forschung und den guten Zweck. «Vielleicht helfen die Ergebnisse jemand anderem», sagt sie. Doch je länger die Behandlung andauert, desto besser wirkt das Medikament. Statt der 17 Migräneanfälle pro Monat erleidet Schupp jetzt nur noch sieben bis acht. Von den ganz starken Anfällen hat sie in letzter Zeit gar keine gehabt.

Dorothée Schupp denkt, dass sie mit Erenumab ihre Migräneanfälle ganz gut in Schach halten kann, sie glaubt aber nicht, dass das Medikament sie ganz davon befreien wird. «Da ich ein hartnäckiger Fall bin, werde ich wohl für immer mit Migräne leben müssen. Sie gehört einfach zu mir», sagt sie fast schon versöhnlich. Ganz aufgegeben hat Schupp die Hoffnung trotzdem nicht. Sie hofft, dass die Migräne nach der Menopause von alleine aufhört. «Wenn ich sie zumindest nur einmal pro Woche hätte, wäre das super», sagt Dorothée Schupp und lacht dabei wieder herzlich.