Zucker und Salz sind gesundheitsgefährdend, saftige Fleischstücke moralisch und ökologisch bedenklich, hochprozentige Alkoholika von horrendem Gefährdungspotenzial: Vor lauter gereckten Mahnfingern könnte einem langsam der Appetit vergehen. Höchste Zeit für etwas mehr Gelassenheit in Ernährungsfragen.

VON URS BÜHLER

Das waren noch Zeiten, als bloss ein simples Obst auf der Verbotsliste stand: der Apfel! Vom Baum der Erkenntnis gepflückt, soll er einst die Ursünde begünstigt haben. Heute ist diese Frucht längst rehabilitiert und gilt sogar als Heilsversprechen: «An apple a day keeps the doctor away!» Als Kinder der Aufklärung haben wir brav gelernt: Obst und Gemüse pflastern nicht etwa den Weg in die Vorhölle, sondern ins Paradies eines beschwerdearmen Lebens.

Sich widersprechende Signale Verteufelt werden dafür längst andere Köstlichkeiten, sei es durch wissenschaftliche oder politische Kreise: In der Forschung lösen sich Warnrufe in einer Kadenz ab, dass man sich am Esstisch umzingelt fühlt von Mahnfingern. Und deren Signale sind erst noch widersprüchlich. Einmal steht der Kaffee unter Generalverdacht, dann wieder erhält er breite Amnestie; das gleiche Lied mit dem Hühnerei. Zurzeit machen uns Präventivmediziner die Kartoffeln, einstige Helden der Alltagsküche, wegen ungünstiger Auswirkungen auf den Blutzuckerspiegel madig. Gewarnt wird vor Transfetten, Salz und Zucker, der Alkohol ist ohnehin längst verteufelt, selbst als Genussmittel. Und auf rotes Fleisch und Würste ist eine Hexenjagd im Gang, mit kräftiger Unterstützung durch die Wissenschaft. Schokolade kann ihren Ruf als Glücksbereiter immerhin einigermassen unbehelligt verteidigen, zum Glück. Aber bloss nicht zu viel davon essen, Glück will dosiert sein!

Ach, ja, es ist kompliziert geworden und erscheint paradox: Das Essen war in unseren Breitengraden kaum je so stark von religiösen Sitten und Bräuchen entkoppelt wie heute – und kaum je so sehr vom Beigeschmack der Sünde begleitet. Dies nicht nur rund um den Fleischkonsum, dem wir uns später widmen. Dabei könnte es doch so einfach sein: Was wir uns richtig schmecken lassen, ist ein Glücksbereiter und somit der Gesundheit förderlich. Würgen wir aber jeden Bissen mit schlechtem Gewissen hinunter, wird es uns garantiert krankmachen. Essen ist emotional geprägt, deshalb schlagen sich die Botschaften der Gesundheitsapostel kaum in weniger Fettleibigkeit nieder – im Gegenteil. Der Hype der neunziger Jahre um fettarme Diäten machte die Amerikaner nur noch dicker. Heute heisst es, mit fettreicher Ernährung lasse sich sogar besser abnehmen.

Aber wir wollen hier keine Leserinnen und Leser vergraulen, die gerade den ganzen Januar hindurch den Gürtel enger geschnallt haben, um die eine oder andere Festtagssünde zu tilgen. Gratulation, niemand will Ihnen den Stolz auf diesen Effort vergällen! Vorübergehender Verzicht, auf Alkohol, Zucker oder was immer man sonst im Überfluss konsumiert, kann eine wunderbare Erfahrung sein. Es schärft die Sinne für künftige Genüsse. Ich vergesse nie, wie wir uns nach einer Fastenwoche im Schwarzwald einmal auf der Heimfahrt im Zug, nach zehn Tagen Gemüsebrühe, dem Fastenbrechen widmeten, traditionsgemäss mit einem – Apfel! Noch nie hatte ich eine profane Frucht derart genossen.

Gefährdeter Genuss
Es ist also nicht die Völlerei, der ich das Wort reden möchte. Es ist der Genuss. Und der ist auf vielen Ebenen gefährdet. Da werden an europäischen Fachhochschulen Studienrichtungen mit Titeln wie «Culinary Arts» und «Vegan Management» lanciert, und auf Blogs und in Social-Media-Kanälen lodert ein eigentlicher Hype um Rezepte und kulinarische Trends. Bloss: Vieles davon geht eben nur kopflastig und virtuell ab. Die unsägliche Mode mit der noch unsäglicheren Bezeichnung «Food Porn», gemäss der jeder angerichtete Teller mit der Kamera statt mit der Zunge in Beschlag genommen wird, spricht Bände. Spitzenköchinnen wie Tanja Grandits haben schon öffentlich beklagt, ihr Publikum zücke im Restaurant ständig das Handy, um ihre Kreationen zu knipsen, statt sie auf der Zunge zu würdigen.

Genuss pur hingegen scheint ausser Mode zu kommen. Das mag auch damit zu tun haben, dass Geniessen zum Imperativ geworden ist: Überall wird es uns aufgetragen, durch Tourismus- und PR-Abteilungen. So ist nicht das Essen zum Megatrend geworden, sondern das Geschwätz darüber. Und zwar nicht auf diese sinnliche, alltagsnahe Art wie in Italien, wo sich die Menschen seit jeher stundenlang über die Zubereitung von Gerichten unterhalten oder darüber, was heute Abend gekocht werde. Es geht vor allem um Trends und Moden. Wenn es en vogue wird, aus Pulver angerührte Flüssignahrung als gesunden Fast Food zu propagieren, führen sich ganze Horden nur noch diese zu. Und ich kann Ihnen versichern, denn ich habe sie einmal getestet: Diese Produkte, ursprünglich im Silicon Valley entwickelt, schmecken so scheusslich, wie es klingt.

Inspiriert von der Vegi-Muse
Viele reden heute nicht einmal über das, was sie geniessen, sondern darüber, worauf sie verzichten. Besonders unter jungen Frauen ist es zum Statussymbol geworden, sich vegetarisch oder gar vegan zu ernähren. Das ist kein übler Weg, sich eine Peergroup aufzubauen, jedenfalls besser, als sich mit Drogen vollzupumpen. Ich habe Respekt für den individuellen Entscheid, konsequent auf
Fleisch zu verzichten. Er basiert oft auf hehren Zielen – und hat gerade in der Schweiz eine starke Tradition, dem Land von Bircher-Benner und von «Hiltl», dem angeblich ältesten vegetarischen Restaurant der Welt. Dem Vegetarismus verdanken wir nicht nur die Cornflakes, erfunden von John Harvey Kellog, einem amerikanischen Arzt und Angehörigen einer Freikirche, die das fleischlose Dasein predigte. Auch die hiesige Gastrobranche hat sich in den letzten Jahren vielfältig inspirieren lassen: Ohne lustfeindliche staatliche Zwängerei haben namentlich in urbanen Gebieten Imbisse wie Gourmetlokale, für die Hummer und Kaviar längst nicht mehr der Inbegriff des Luxus sind, vegetarische Kreationen in ihre Karten eingebaut. In Zürich beispielsweise hat letztes Jahr mit der «Marktküche» erstmals ein veganes Lokal Gault-Millau-Punkte geholt.

Die Swissveg, wie die einstige Vereinigung für Vegetarismus heute knackig heisst, listet aktuell landesweit fünfmal mehr für ihre Klientel geeignete Betriebe auf als noch vor zwei Jahren. Auch wenn eingefleischte Vegetarier in meinem Bekanntenkreis wohl zurecht klagen, noch immer in zu vielen Lokalen mit Gemüsetellern abgespeist zu werden: Selten hat eine so klare Minderheit so viel Aufmerksamkeit erhalten in unserer Gesellschaft (laut Swissveg gibt hierzulande etwa jede neunte Person an, vegetarisch zu leben, und jede dreiunddreissigste deklariert sich als vegan).

Wider den missionarischen Eifer
Wohlgemerkt: In einer freiheitlichen Gesellschaft soll jeder seinen Ernährungsplan nach eigenem Wissen und Gewissen gestalten können, sei es weltanschaulich, religiös, ökologisch motiviert oder einfach einem Lifestyle folgend. Ärgerlich für das Umfeld wird es, wenn der missionarische Eifer überhandnimmt, wie es leider bei der veganen Ernährung verbreitet ist. Da die Zugehörigkeit zu Gruppen heute stark über Ernährungsfragen definiert wird, sind Letztere mehr und mehr auch politisch besetzt. Nun, da nicht mehr die Kirchenväter den Speiseplan prägen, die einst etwa den temporären Verzicht auf Fleisch oder Milchfette als Weg der Läuterung verordneten, finden manche Kreise, der Staat solle unsere Ernährungsgewohnheiten steuern. Hierzu sind in diversen Schweizer Städten Volksbegehren lanciert, die das Gemeinwesen zur Förderung namentlich pflanzlicher Ernährung verpflichten wollen.

Dabei vergessen sie gern, dass in einem Land wie unserem, wo Nahrung gewiss keine Mangelware ist, deren Aufnahme auch stark der Lustbefriedigung dienen soll. Eher vermitteln sie den Eindruck, der menschliche Organismus sei ein Automotor, dem man eine möglichst ökologische Treibstoffzufuhr verordnen müsse. Doch es muss schmecken, bitte sehr! Die von manchen so propagierten Naturweine tun dies nun einmal zu selten, die bisher angebotenen Insekten-Burger ebenfalls. Und auch die Adaptionen von Fleischspeisen, mit denen vegetarische Lokale merkwürdigerweise für sich werben, kommen kaum je an die Qualität ihrer Inspirationsquellen heran. Die «Noix gras», mit der ein Zürcher Wirt auf Nussbasis die Foie gras ausstechen will, hat mit dem unvergleichlichen Geschmack und Schmelz des Originals wenig zu tun (das es übrigens heute auch in hervorragender Qualität von ungestopften Tieren gibt). Und wann je erreicht ein Sojaprodukt auch nur annährend den Pfiff eines gut gereiften Brillat-Savarin-Käses? Ganz abgesehen davon, ist ein Aufruf zum generellen Verzicht auf Fleisch- und Milchprodukte eine Attacke auf die Esskultur und -tradition, nicht nur im Milch- und Weideland Schweiz, und ein Affront gegen all die Kleinproduzenten, die von der Vielfalt ihrer Erzeugnisse leben.

Wege zum Wohlbefinden
Um hier den Kreis zum Thema Gesundheit zu schliessen: Dass ein streng vegetarischer Speiseplan das Leben verlängert, gilt mitnichten als bewiesen. Wer Wert auf ein langes und möglichst beschwerdefreies irdisches Dasein legt, dürfte hingegen mit der Beachtung einiger simplen Prinzipien prima bedient sein: nicht nur Weissbrot und Frittiertes essen, auf klebrige Zuckerbomben in Getränkeflaschen ganz verzichten (was kulinarisch kein grosser Verlust ist), dafür täglich mindestens anderthalb Liter Wasser trinken – schliesslich sind wir hierzulande gesegnet mit erstklassigem Hahnenwasser. Als grosser Liebhaber von Süssem habe ich mir überdies eine einfache Hausregel zugelegt: Desserts sind partout nicht sehr gesund, also muss man darauf achten, dass sie wenigstens richtig gut sind. So achte ich bei ihnen ganz besonders auf Qualität und Frische.

Aber was da alles für Diäten propagiert werden! Es geht auf keine Kuhhaut, pardon, geschätzte Veganer: auf keine Pfirsischhaut. Dabei müsste man sich eigentlich nur überlegen, was der Hauptgrund für die anhaltend phänomenale Popularität der italienischen Küche ist: Es gelingt ihr unvergleichlich, das Gesunde mit dem Genuss zu paaren. Der mediterrane Speiseplan mit viel Obst, Tomaten, Olivenöl, Fisch, Mandeln, Geflügel und einem Gläschen Wein am Tag gilt auch Wissenschaftlern als besonders ausbalanciert. Auf dieser Basis lässt sich ein Gefühl dafür entwickeln, welche Lebensmittel einem individuell Spass und Wohlbefinden zugleich vermitteln.

Zu viel Geschwafel
Gerne sei übrigens eingeräumt, dass die Debatten um bewusste Ernährung und faire Produktion diverse erfreuliche Trends gesetzt haben (ob diese mehr als Moden sind, muss sich weisen): Das reicht von der Renaissance traditioneller Prinzipien wie «From Nose to Tail», bei dem nicht nur die edelsten Teile des Tiers gegessen werden, bis zum Aufschwung regionaler, traditionell gefertigter Produkte, wie es die Bewegung Slow Food seit dreissig Jahren propagiert. Massenware wird nicht mehr einfach als gottgegeben hingenommen, man sucht den Genuss wieder im Kleinen. Auch die Tendenz zum bewussteren Fleischkonsum ist zu begrüssen. So mancher sagt heute, er esse lieber zweimal in der Woche ein gutes Stück Weidebeef statt täglich drei Hamburger. Gekauft wird allerdings laut Statistiken dann doch nach wie vor massenhaft Billigfleisch, so dass wir geneigt sind, hier doch auch kurz ein bisschen zu moralisieren: Was nützte es, auf allen Kanälen das Loblied der Nachhaltigkeit anzustimmen, wenn man nicht gewillt ist, zu deren Gunsten etwas tiefer in die Tasche zu greifen?

Erlauben Sie mir eine etwas simplifizierende Schlussdiagnose: Es gibt in der Kulinarik heute zu viele kurzlebige Moden, zu viel Geschwafel, zu viel Ideologie auf beiden Seiten. Auf der Strecke bleibt dabei oft die Beständigkeit, die Gelassenheit – und der Humor. Diesen erwähnte die spanische Kochlegende Ferran Adrià, Mitbegründer der avantgardistischen Molekularküche, 2006 in seinem berühmten Manifest schon im ersten von 23 Geboten als einen Hauptausdruck der Kochkunst, nebst Harmonie, Kreativität, Glück, Schönheit, Poesie, Komplexität, Magie, Provokation und Kultur. Die von ihm propagierte, etwas verkopfte Kochphilosophie mag ihren Zenit überschritten haben, aber seine Regeln überdauern sie. Und Lust und Lebensfreude als Antrieb für die Ernährung werden jeden Hype und Trend überleben.

Dieser Artikel erschien im 50plus Magazin, Ausgabe Februar 2018.