Barbara Bleisch ist eine der bekanntesten Philosophinnen der Schweiz. Sie moderiert die «Sternstunde Philosophie» am Fernsehen, ihre Bücher sind Bestseller. Wir wollten von ihr wissen: Was ist Philosophie eigentlich, und was kann sie der Gesellschaft bieten – in Krisenzeiten wie diesen und darüber hinaus?

VON MARIUS LEUTENEGGER

Philosophie ist ein ziemlich abgedroschener Begriff, jeder Konzern hat heute seine «Unternehmensphilosophie ». Was ist denn Philosophie genau?
Der Begriff «Philosophie» stammt aus dem Griechischen und bedeutet «Liebe zur Weisheit». Nun stellt sich die Frage: Was ist Weisheit? Philosophen erforschen nicht wie Naturwissenschaftler die Dinge in der Welt. Sie wollen vielmehr wissen: Was ist eigentlich ein Ding, und was ist die Welt? Was heisst es, etwas zu wissen? Für mich ist Philosophie die Kunst der Genauigkeit. Philosophie erlaubt sich, in die Tiefe zu gehen, alles zu hinterfragen und hinter die ganze Staffage zu schauen. Einen eingegrenzten Gegenstandbereich hat die Philosophie zunächst nicht; alle Fragen, die sich uns stellen oder die das Leben uns stellt, können zum Thema der Philosophie werden. Oder anders gesagt: Sie stürzt sich auf das, was auf uns einstürzt!

Inwiefern lässt sich Philosophie von Politik abgrenzen, in der ja auch alle möglichen Gedankengebäude vertreten und verhandelt werden und in der es zum Beispiel auch immer um Ethik geht?
Natürlich gibt es Überlappungen, aber Philosophie ist breiter und grundsätzlicher. Sie befasst sich etwa auch mit Fragen der Ästhetik: Können wir sagen, dass ein bestimmtes Gemälde schöner ist als ein anderes – oder ist das reine Geschmackssache? Oder sie stellt Fragen der Moral: Muss ich einen Seitensprung beichten? Soll ich mein Haustier einschläfern lassen, wenn es leidet? In einem liberalen Rechtsstaat mischt sich die Politik nicht in solch private Fragen ein. Erledigt sind sie deshalb nicht. In politischen Diskussionen geht es meist nur darum, seinen Standpunkt durchzusetzen und das Machtspiel zu gewinnen. Im philosophischen Gespräch ist man nicht seinen Interessen und Lobbygruppen, sondern der Erkenntnis verpflichtet. In der Philosophie waltet deshalb auch das sogenannte «principle of charity»: Vertritt das Gegenüber eine andere Meinung, sollte man sich zuerst einmal überlegen: Was spricht für dessen Position? Man sollte den Perspektivenwechsel immer wieder einüben und auch die Argumente stark machen, die für die Gegenposition sprechen. Nur so kommt man in der Philosophie voran. Letztlich übrigens vielleicht auch in der Demokratie.

Was unterscheidet eine Philosophin wie Sie von allen anderen, die sich ebenfalls Gedanken zu den grossen Fragen machen?
Das ist eine wichtige Frage: Wofür kann eine Philosophin Expertin sein? Ich bin da relativ bescheiden. Die meisten stellen sich früher oder später existenzielle Fragen, und meine Antworten auf diese Fragen sind nicht besser. Philosophisch über diese Fragen nachzudenken, heisst aber, vom hohen Ross der Vorurteile herabzusteigen und alles radikal in Frage zu stellen, auch sich selbst. Ich würde also sagen, eine Philosophin ist keine Expertin für Antworten, wohl aber für die Art und Weise des Fragens. Dabei kann es nützlich sein, wenn man über Vorwissen verfügt, und dieses erarbeitet man sich im Studium: Besitzt man zum Beispiel Grundkenntnisse der Argumentationslehre, entdeckt man Fehlschlüsse schneller. Und kennt man sich mit Philosophiegeschichte aus, weiss man, mit welchen Problemen bestimmte Antworten konfrontiert sind. Wissenszuwachs in der Philosophie heisst aber nicht wie in den Naturwissenschaften, dass sich Fragen erledigen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens oder nach einer gerechten Welt wird beispielsweise nie gelöst sein. Darum veralten die meisten philosophischen Schriften auch nicht. Was natürlich nicht
heisst, es gäbe keine Paradigmenwechsel und neue Ideen.

Was kann Philosophie der Gesellschaft geben?
Zuerst möchte ich sagen, was sie ihr nicht geben kann. Manchmal hört man, die Philosophie boome, weil wir in einer mittlerweile säkularisierten Gesellschaft leben. Philosophie ist aber keine Ersatzreligion, sondern in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Religion. Philosophie ist ein radikales In-Zweifel-Ziehen und damit auch anstrengend. Gottfried Benn hat aber auch vom «Gegenglück Geist» gesprochen: Wer selber denkt, erledigt sich ein Stück weit seiner Opferrolle – denn man setzt sich in Distanz zu seinem Gegenstand. Philosophie macht die Welt meiner Meinung nach auch interessanter. Mein Vater sammelt gern Pilze, und ich erinnere mich an Spaziergänge mit ihm, als er überall Pilze entdeckte, wo ich nur Gehölz, Laub und Erde sah. Sein Wissen schulte seinen Blick, und der differenzierte Blick macht den Wald vielfältiger. So ist es für mich auch mit der Philosophie: Sie macht die Welt bunter.

In Diskussionen im Rahmen der Corona-Krise wird  oft ein Antagonismus zwischen Wirtschaftsinteressen und Menschlichkeit kreiert – da die gierigen Wirtschaftsgnome, die wollen, dass der Laden so schnell wie möglich wieder läuft, dort die älteren Menschen, für deren Überleben man alles tun muss. Was hat die Philosophin dazu zu sagen?
Als Gesellschaft kommen wir um Fragen der Güterabwägung nicht herum. Selbstverständlich dürfen keine Menschenleben aktiv geopfert werden. Wir wägen Sicherheit und Freiheit aber ständig gegeneinander ab und nehmen Todesopfer in Kauf. Der Strassenverkehr zum Beispiel fordert pro Jahr 1,35 Millionen Menschenleben weltweit, aber dennoch sind wir nicht bereit, aufs Auto zu verzichten. Wir stellen uns auch die Frage, wie teuer zum Beispiel Medikamente für seltene Krankheiten sein dürfen, auch wenn Menschen sterben, wenn sie das Medikament nicht erhalten. Ob wir in der aktuellen Krise die richtige Kosten-Nutzen-Abwägung machen, weiss im Moment niemand. Gerade weil dies so heikle Fragen sind, ringen wir auch so sehr mit all diesen Entscheidungen.

Eines Ihrer grossen Themen ist die Familie. Sie haben dazu viel veröffentlicht, jetzt gerade ist das neue Buch «Kinder wollen» erschienen, das Sie zusammen mit der Juristin Andrea Büchler schrieben. Woher rührt Ihr grosses Interesse an der Familie?
Einerseits interessierten mich philosophisch immer die Fragen, die uns das Leben stellt. Familie haben wir alle, und Familienverhältnisse gehören zu den prägendsten überhaupt. Ich habe eine grosse Verwandtschaft und eigene Kinder. Das Familienleben hat immer wieder philosophische Fragen aufgeworfen. Andererseits habe ich festgestellt, dass die Familie in der Philosophie recht stiefmütterlich behandelt wurde; auch darum hat mich dieses Thema gereizt.

Es gab wohl keine Zeit in den letzten Jahrzehnten, in denen Familien so sehr auf sich zurückgeworfen waren wie in den vergangenen Monaten. Was hat das mit ihnen gemacht?
Wie jede Krise wirkt auch diese wie ein Brennglas oder eine Lupe: Sie verstärkt, was schon vorhanden ist. In intakten Familien werden die bestehenden Bande wohl noch besser, in zerrütteten könnten Konflikte vermehrt aufbrechen. Dass die Krise uns hilft, uns zusammenzuraufen, ist leider selten der Fall.

Wie hat die Philosophie Ihnen persönlich geholfen, durch die Corona-Zeit zu kommen?
Ich habe es insofern einfach, als dass ich, anders etwa als ein Fussballer, auch in der Krise das machen kann, was mich beruflich interessiert. Ich brauche Bücher, Raum zum Nachdenken und die Möglichkeit, etwas aufzuschreiben, und auf all das musste ich nicht verzichten. Die Corona-Krise konfrontiert uns zudem mit neuen Fragen – die Zeit ist intensiv und angeregt! Was ich aber vermisse, ist das Gespräch. Auch dieses gehört zur Philosophie dazu.

Philosophin, Autorin, Moderatorin

Barbara Bleisch studierte Philosophie, Germanistik und Religionswissenschaften an den Universitäten Zürich, Basel und Tübingen und arbeitete an den Universitäten Zürich, Bern und Belfast sowie am Collegium Helveticum der Zürcher Hochschulen. Seit zehn Jahren moderiert sie regelmässig die Diskussionssendung «Sternstunde Philosophie» am Schweizer Fernsehen, daneben ist sie als Buchautorin tätig. Barbara Bleisch ist verheiratet und Mutter zweier Töchter; sie lebt in Zürich.

Ihr neustes Buch schrieb Barbara Bleisch zusammen mit der Juristin Andrea Büchler. Es setzt sich auf vielfältige Weise mit der Frage auseinander, was es angesichts aktueller gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen bedeutet, Kinder zu bekommen. Wie weit reicht unsere Autonomie, selber zu entscheiden, am Ende wirklich – und wo tragen wir besondere Verantwortung?

«Kinder wollen» – Barbara Bleisch, Andrea Büchler, 304 Seiten, CHF 31.90, Hanser