Was gibt es Schöneres, als im Schatten zu liegen und ein Buch zu lesen? Eben: Sommerzeit ist Lesezeit! Wir stellen Ihnen ein paar geglückte Neuerscheinungen vor, die erst noch alle mit dem Älterwerden zu tun haben. Und die sich auf die genau richtige Weise mit dem Thema auseinandersetzen: sommerlich-leicht!

Text: Marius Leutenegger

Sexy und mit Tiefgang

Es gibt Autoren und Autorinnen, die man wohl für immer mit einem einzigen Buch assoziieren wird. Elizabeth Gilbert gehört dazu: Sie kann schreiben, was sie will, sie bleibt die Verfasserin von «Eat, Pray, Love». Der 2006 erschienene Selbsterfahrungsbericht avancierte zum Weltbestseller und wurde mit Julia Roberts verfilmt. Doch die 51-jährige US-amerikanische Autorin hat natürlich noch andere Pfeile in ihrem Köcher. Ihr neuester Streich ist ihr dritter Roman «City of Girls», der in den USA ein Riesenhit war – und auf dessen Verfilmung wir wohl nicht lang warten müssen.

Hauptfigur ist die 95-jährige Vivian, die mit ein bisschen Bedauern und viel mehr Spass auf ihr Leben als junge Frau in New York zurückblickt. In den 1940er-Jahren landet sie bei einer Tante, die in Manhattan ein ebenso heruntergekommenes wie glamouröses Theater führt. Vivian lernt in der farbenfrohen Künstlerwelt die Liebe in all ihren Schattierungen kennen, lässt alle Hemmungen sausen, geniesst die unterschiedlichsten Affären und findet schliesslich auch das ganz grosse Glück.

Klingt ein bisschen nach billiger Schmonzette? Seit «Eat Pray Love» halten manche Elizabeth George ja für eine eher esoterisch veranlage Kitschnudel. Aber das ist natürlich Quatsch. Hinter der lockeren Sprache, mit der Vivians Geschichte erzählt wird, verstecken sich viel Tiefe und echte Anliegen. Das eigentliche Thema des Buchs ist letztlich die Freude an Liebe und Sex, und dieser Freude haftet im Zeitalter von #MeToo ja stets etwas Anrüchiges an. Die Autorin lässt Vivian an einer Stelle sagen: «Wir befinden uns in diesem unglaublich explosiven Moment weiblicher Wut und Widerstands. Was ich aber nicht verloren sehen möchte, ist die Idee, dass Frauen Sex betreiben, weil es etwas ist, das sie haben wollen.»

Ein Buch also, das mit einem Schuss Melancholie bestens unterhält, uns in eine für uns unerreichbare Welt entführt und das erst noch wichtige Fragen aufwirft – was kann Sommerlektüre mehr leisten?

City of Girls – Elizabeth George – 496 Seiten, CHF 25.90 – S. Fischer


Holt ist überall

2017 wurde Kent Haruf international berühmt – dank der herzzerreissenden Verfilmung seines Romans «Unsere Seelen bei Nacht» mit Jane Fonda und Robert Redford. Zu diesem Zeitpunkt war der Schriftsteller aus Colorado allerdings schon seit drei Jahren tot. «Unsere Seelen bei Nacht» war sein letztes Werk, und es erschien posthum.

Insgesamt verfasste Kent Haruf sechs Romane, die eine Besonderheit verbindet: Sie spielen alle in der fiktiven Kleinstadt Holt, die der Autor im Herzen Colorados angesiedelt hat. Und sie alle drehen sich um die Schicksale der Menschen von nebenan. Der Diogenes-Verlag veröffentlich die Holt-Romane nach und nach auf deutsch. Jetzt ist der vierte erschienen: «Kostbare Tage». Mit viel Empathie beschreibt der Autor erneut die kleinen Leute, ihre Nöte, ihre Gemeinschaft und ihre Versuche, etwas Sinn ins Leben zu bringen. Holt ist natürlich überall, und daher kann man als Leserin, als Leser so richtig eintauchen in diese Welt, die man zu kennen meint.

Bei Holt geht es eigentlich nie um die eigentliche Geschichte, sondern immer um die Nebenhandlungen, um die Menschen – wie sie mit Schwierigkeiten umgehen, sich verändern oder eben auch nicht. Es geht um weiche Kerne unter harten Schalen und darum, wie man sich in einer Gesellschaft bewegt. Zentrum von «Kostbare Tage» ist Dad Lewis, Besitzer des Baumarkts, ein alter Unsympath, der einst ein aufrechter Mann war – und dessen Geschichte durch einen zugezogenen Priester neu aufgerührt wird. Die Vergangenheit ist eben nie vergangen, allenfalls verdrängt. Haruf verknüpft Handlungsstränge äusserst geschickt, und sein manchmal schwermütiger Text liest sich leicht – mit kurzen Sätze und kurzen Kapitel verdichtet er kunstvoll stilisiert alles aufs Maximum. Mit dieser Buchserie ist wie mit einer guten Fernsehserie: Sie macht süchtig nach mehr. Noch zwei Bücher werden folgen.

Kostbare Tage – Kent Haruf – 272 Seiten, CHF 33.90 – Diogenes


Blick zurück – fast ohne Zorn

Lincoln, Teddy und Mickey sind alle 66 Jahre alt und Freunde, seit sie in den späten 1960er-Jahren zusammen im College waren. Sie treffen einander in Lincolns Ferienhaus auf Martha’s Vineyard – genau dort, wo sie einst ihren College-Abschluss feierten. Damals lag das Leben noch vor ihnen. Jetzt sind sie zusammengekommen, um es Revue passieren zu lassen und in Erinnerungen zu schwelgen. In Erinnerungen an Jacy, das Mädchen, in das alle verliebt waren; das Mädchen, das an jenem Abschlussabend vor 50 Jahren ebenfalls dabei gewesen war; das Mädchen, das am nächsten Tag verschwand und nie wieder auftauchte.

Nein, Pulitzer-Preis-Träger Richard Russo liefert mit «Jenseits der Erwartungen» keinen Altherrenkrimi ab – und auch keinen Roman, bei dem früher alles besser war. Vielmehr porträtiert der 70-jährige Amerikaner das Leben anhand der drei Lebensläufe seiner Protagonisten. Mit scharfem Blick und einem leicht sarkastischen Unterton zeigt Russo, dass das Leben eben nur scheinbar etwas ist, das man planen kann. Dass der Zufall fast hinter jeder Ecke lauert, und dass man im Rückblick seine Entscheidungen zwar analysieren, aber nicht mehr ändern kann. It is what it is, wie die Amerikaner so gern sagen.

«Jenseits der Erwartungen» fühlt sich beim Lesen an wie ein Kanu, das auf einem ruhigen Fluss stromabwärts gleitet. Links und rechts erhascht man Szenen, die das Leben schrieb. Gern würde man manchmal verweilen, manchmal eingreifen, aber der Lesefluss trägt einen weiter. Nie wird man das Gefühl los, dass sich letztlich alles um die verschwundene Jacy dreht. Und als dieses Rätsel schliesslich gelöst ist, können Lincoln, Teddy und Mickey einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen und ein neues Kapitel in ihren Leben aufschlagen. Ein Buch wie das Leben selbst: im Grund sehr einfach, aber trotzdem äusserst spannend. (Rezension: Erik Brühlmann)

Jenseits der Erwartungen – Richard Russo – 432 Seiten, CHF 33.90 – Dumont


Der Zauber des Zusammenkommens

Früher gab es ja diese Unterscheidung von E- und U-Kultur: der ernsthaften Kunst, eben E, und der seichten Unterhaltung, U. Also quasi Goethe und Konsalik. Wie so viele Grenzen haben sich mittlerweile auch diese aufgelöst. Sie waren ja auch nie trennscharf; auch Goethe konnte unterhalten, und auch bei Konsalik fand man immer wieder mal einen klugen Gedanken.

Ein schönes Beispiel für die Symbiose von E und U ist Graham Swift. Der 1949 geborene Londoner hat höchste literarische Weihen erhalten, zum Beispiel den Booker-Prize. Er gilt als einer der bedeutendsten Autoren der britischen Gegenwartsliteratur. Doch das alles geht einher mit einem Schreibstil, der von einer äusserst angenehmen Mühelosigkeit geprägt ist. Swift schreibt so spannend wie süffig, und man merkt unter Umständen erst mit der Zeit, wie wahnsinnig gut ein Text von ihm ist. Swift ist halt einfach ein Geschichtenerzähler. Aber ein grossartiger.

In seinem neuesten Roman «Da sind wir» gibt es drei Hauptfiguren: den Varieté-Magier Ronnie Deane, seinen Freund, den Showmann Jack Robbins, und Evie White, die erst die Assistentin und Verlobte von Ronnie ist und danach Jack heiratet. Jetzt ist Evia alt, Jack ist tot – und sie blickt zurück. Swift lässt und tief eintauchen in die Welt des Varietés, in die Magie der Liebe und noch mehr in die Biografien seiner Figuren. Besonders eindrücklich ist zum Beispiel jener Teil, in dem er von Ronnies Kindheit im Zweiten Weltkriegt spricht. Das ist alles so fein ziseliert, so schön gearbeitet, mit so wenigen Strichen bunt ausgemalt, dass man die Bilder, die hier hervorgerufen werden, kaum mehr aus dem Kopf bekommt – obwohl es ganz einfache Bilder ohne jede Drastik sind.

Zauberei spielt in diesem schmalen Roman eine grosse Rolle – zauberhaft ist, womit Graham Swift und hier beglückt! Am besten beginnt man gleich wieder von vorn, wenn man damit durch ist.

Da sind wir – Graham Swift – 160 Seiten, CHF 28.90 – dtv


Durchs Schlüsselloch

Der italienische Starautor Andrea Camilleri wirkte unsterblich: Noch mit weit über 90 Jahren veröffentlichte er jedes Jahr mehrere Bücher, die ebenso von fast jugendlicher Frische wie von weisem Humor geprägt waren. Seine berühmteste Schöpfung war Commissario Montalbano, der in über zwei Dutzend Krimis die Hauptrolle spielte, doch Camilleri schrieb auch witzige Romane über aussergewöhnliche Anekdoten der italienischen Geschichte, grosse Liebesgeschichten und Persönliches – zuletzt zum Beispiel das hinreissende Büchlein «Brief an Matilda», in dem er seiner Urenkelin humorvoll aus seinem Leben erzählt.

Nun, vergangenen Juli starb der 1925 geborenen Sizilianer eben doch. Dass von diesem Vielschreiber noch ein paar Bücher posthum erscheinen würden, war zu erwarten. (Aber was heisst Vielschreiber: Camilleri war am Ende blind – was er selber gut fand, weil ihn so nichts mehr ablenke vom Wesentlichen –, und er diktierte seine Werke.) Zum einen liegen in seinen Schubladen offenbar noch einige nie publizierte Manuskripte, zum anderen hinkt der deutsche Markt hinter dem italienischen hinterher: Wir dürfen uns also noch eine ganze Zeit lang auf neue Übersetzungen freuen.

Eine solche ist «Kilometer 123»; das Original erschien im Frühling 2019. Wüsste man nicht, wer der Autor dieses Textes ist, man würde einen Menschen vermuten, der mitten im Leben steht – so knackig und auf der Höhe der Zeit kommt alles daher. Camilleri erzählt in seiner üblichen genreübergreifenden Art eine Liebesgeschichte, die sich zu einem veritablen Krimi auswächst. Die schnelle Handlung hat er in eine vielfältige Textcollage gepackt: Wir folgen der Geschichte von Ester, ihrem Geliebten Giulio und dessen Ehefrau anhand von SMS-Nachrichten, Zeitungsausschnitten, filmmässigen Dialogen, Polizeirapporten. Es gibt nicht einen beschreibenden Satz. Man fühlt sich als Leser ständig ein wenig als Voyeur, der hier grad geheime Akten durchsieht oder ein fremdes Smartphone ausspioniert. Das ist die perfekte Literatur für Leute von heute – ein schneller und spannender Spass!

Zugegeben: «Kilometer 123» hat inhaltlich nichts mit dem Älterwerden zu tun, das auf diesen Seiten im Zentrum stehen soll. Aber das ein so alter Mensch wie Camilleri so saftig schreiben kann, rechtfertigt eben doch, diesen Roman hier zu empfehlen – was für ein Vorbild!

Kilometer 123 – Andrea Camilleri – 144 Seiten, CHF 31.90 – Kindler


Die Kunst des guten Alterns

Wer je in ihrer Praxis in Zürich war, weiss: Die Psychotherapeutin Elisabeth Schlumpf ist eine ungewöhnlich lebhafte, humorvolle und schnell denkende Frau. Dass sie Jahrgang 1932 hat, nimmt man erst fast ungläubig zur Kenntnis – und dann dankbar. Denn in 88 Jahren hat sich Elisabeth Schlumpf sehr viel Lebensweisheit aneignen können, die sie einem zur Verfügung stellt.

Auch als Autorin. Seit einigen Jahren veröffentlicht sie immer wieder neue Bücher übers Älterwerden. Jetzt gerade ist «Ich hör nicht auf, ich fang erst an» erschienen, und man müsste den leichtfüssigen Text eigentlich zur Pflichtlektüre für alle Menschen ab 50, 60 Jahren erklären, also für alle, die mit dem Älterwerden gelegentlich oder darüber hinaus hadern. Es ist nicht allein so, dass Elisabeth Schlumpf einem die Angst vor der letzten Lebensphase nimmt – sie macht vielmehr sogar Lust darauf. Tatsächlich! Welch Verlust wäre es, ein Leben ohne diese Etappe abschliessen zu müssen. Denn diese Etappe kann tatsächlich ein goldener Herbst sein, in dem man die Früchte des Lebens geniesst: aufmerksamer und zugleich gelassener denn ja, mit Staunen und Freude, voller Hoffnung und geistigem Elan.

Natürlich ist das alles nicht einfach so zu haben. Elisabeth Schlumpf zeigt auf, was wir tun können, um dem Positiven im Leben das Hauptgewicht zu geben, welche Fallen wir umgehen müssen, um uns die Lebensfreude nicht trüben zu lassen, und wie man schlimme Ereignisse, die auf einen im Alter immer zukommen, gut ins Dasein integriert. Das tut sie ohne erhobenen Zeigefinger und mit sehr eingängigen und leicht lesbaren Argumenten. Für ihren Hauptberuf ist das alles zweifellos kontraproduktiv: Das Buch könnte so manchen Gang zur Psychotherapeutin obsolet machen.

Ich hör nicht auf, ich fang erst an – Elisabeth Schlumpf – 192 Seiten, CHF 27.90 – Kösel