Max stand auf dem Balkon. Es goss in Kübeln.

„Früher war Weihnachten weiss!“ knurrte er. „Nichts ist mehr wie früher…“

Als Sven aus dem Elternnest ausflog, änderte sich alles. Besonders zur Weihnachtszeit: kein Baum mehr. Keine Geschenke. Aber Fondue Chinoise.

„Ein bisschen Tradition muss bleiben!“  – hatte Lucie argumentiert.

Doch Fondue Chinoise für zwei war trostlos  – wie eine Vernissage mit nur vier Besuchern.

„Bist du der Nikolaus?“ – eine Mädchenstimme riss Max aus den düsteren Gedanken.

Es war eines der Tamilen-Mädchen. Die Tamilen wohnten in der Nachbarswohung. Riesenfamilie. Mit tausend Verwandten. Und noch mehr Kindern.

Max war das egal. Wenn nur dieser Curryduft nicht gewesen wäre…die kochten einfach immer Curry.

„Ich bin Dayita…ich kann ein Klausengedicht…“

„Ich bin nicht der Klaus. Aber leg’ los…“

„Aber du musst mir etwas schenken – der Nikolaus schenkt nach den Gedichten immer etwas…am besten wäre ein Einhorn, wie es Barbie hat“

Max wunderte sich. Die Kleine plapperte in bester Mundart drauflos.

Lucie kam auf die Terrasse. „Hallo Dayita…“

„Hallo Frau Lucie“ – das Kind strahlte.

Und wieder einmal gab seine Frau ihrem Mann auch nach 50 Ehe-Jahren noch  Rätsel auf: WOHER KANNTEN DIE BEIDEN EINANDER MIT NAMEN?

„Freust du dich auf den Baum?“ – fragte Lucie die Kleine. Und streckte ihr einen Schokoriegel über den Balkon zu.

„Wir machen keinen. Es kommt zu teuer. Wir haben kein Geld für die Kugeln – und ohne Kugeln ist ein Baum für die Sau…“, erklärte die Kleine altklug.

„Na..na…na…“, kurrte Max.

Zwei Stunden später schleppte er keuchend eine etwas lädierte  Rottanne an: „Lucie  – das war die letzte! Wo sind die Kugeln?“.

Die beiden schälten gläserne Erinnerungen aus verstaubten Schachteln und zerknittertem Seidenpapier: „Die alte Schneekirche von Lucie’s Elternhaus…der dicke Clown, nach dem Max als kleiner Junge immer zuerst suchte…das verglimmerte Einhorn, das  Sven auf dem Weihnachtsmarkt ausgewählt hatte.

Jetzt schaute Lucie zu ihrem Mann: „Weißt du noch, wie du erschrocken bist, als der Junge  diesen Kitsch wollte. Du meintest: mit dem Buben stimmt doch etwas nicht…“

Beide lachten leise. „Stimmt. Und jetzt führt er in Boston ein Computer-Unternehmen…“ nickte Max zufrieden. Dann: „Wir hätten schon lange wieder Mal einen Baum schmücken sollen, Lucie…hier sind alle unsere Erinnerungen in Seidenpapier verpackt. Das ist besser als jedes Foto-Album auf Facebook…“

Sie schellten bei den Nachbarn. Ein kleiner, dunkler Mann öffnete lächelnd.

„Wir haben für die Kleinen einen Baum geschmückt“, lächelte Lucie zurück.

Der Mann strich sich etwas verunsichert durchs Haar  – doch da jagte Dayita mit einer Schar  Kinder bereits in die Nachbarswohung: „HIER  –  hierher!“

Das laute Geschrei der Kinder verstummte abrupt vor der funkelnden Tanne.

„Sooo schön!“ flüsterte Dayita. Und stiess einen verzückten Schrei aus: Da ist ein glitzerndes Einhorn…“

Max nickte dem Mädchen zu: „Es gehört unserem Sohn Sven. Aber er lebt jetzt  in Boston. Und er hat bestimmt nichts dagegen, wenn der Nikolaus dir das Einhorn schenkt…“

Nach Mitternacht erst kamen Max und Lucie aus der Nachbarswohnung.

Max schenkte zwei Gläser mit Schnaps voll:“ Dieses Curry ist etwas schwer – aber  gar nicht so übel, Lucie…und ehrlich gesagt: besser als unser trostloses Halleluja-Chinoise-Tête-à-Tête…“ Er nahm seine Frau in die Arme:  Der Heilige Abend war mit dieser riesigen Familie doch echt gemütlich.  Nächstes Jahr könntest du vielleicht für  Deine berühmten Mailänderli beisteuern…“

Das Handy von Max vibrierte: „Frohe Weihnachten !“, meldete sich Boston. „Hockt Ihr wieder vor der Kiste?“

„Welche Kiste?“ bellte der Vater ins Telefon, „wir kommen eben von einem gemütlichen Curry-Essen. Wir geniessen den Baum. Und haben dein Einhorn verschenkt  – Grüsse an Frank!“

In Boston schaute Sven kopfschüttelnd zu seinem Freund: „Sie werden alt, Frank…mein Vater redet bereits etwas wirr…sie verschenken Einhörner…und machen wieder einen Baum…“