Bilderbuchwanderung mit zahlreichen Höhepunkten: die über 4500 Jahre alte Burg Hohen Rätien, Mythos Viamala-Schlucht, „Sixtinische Kapelle der Alpen“ und spektakuläre Hängestege. Durch nonstop schönste Naturlandschaften.

VON KARIN BREYER

Das malerische Bündner Dorf Thusis gewinnt dank zahlreicher Sehenswürdigkeiten von Weltrang in unmittelbarer Nähe zunehmend an touristischer Bedeutung. Die Viamala-Schlucht, das karolingische Kirchlein Mistail, die zum Weltkulturerbe gehörende Albulalinie der Rhätischen Bahn oder die wertvollen Deckenmalereien der Kirche in Zillis sind für Natur- und Kulturliebhaber ein Muss! Überdies bietet Thusis eine ungeheure landschaftliche Vielfalt: da ist der Heinzenberg, der Obstgarten Graubündens mit Schlössern und Burgen: Domleschg, der Piz Beverin … und mit 350 Kilometer Wegenetz ein wahres Wanderdorado. Thusis ist auch nördlicher Ausgangspunkt für den kulturhistorischen Weitwanderweg Via Spluga, ein Klassiker mit 2000-jähriger Geschichte, über den Splügenpass ins italienische Chiavenna (65 Kilometer). Folgende Wanderung führt Sie ein Stück weit entlang des historischen Alpen-Transitwegs (gut markiert als Via Spluga Nr. 50) zu der spektakulären Viamala-Schlucht und weiter nach Zillis. Am Bahnhof Thusis gehts via Unterführung, Compognastrasse und Silserweg zum Sportplatz Rheinau und bald über die Hängebrücke nach Sils.

Sils im Domleschg, ein reizendes Dorf

Sils im Domleschg, ein reizendes Dorf

Hinter der Silser Dorfkirche führt ein schmaler lauschiger Saumpfad in zwanzig Minuten hoch zur trutzigen Burg Ehrenfels mit parkähnlichem Garten, die seit den 1930er Jahren als Jugendherberge dient. Daran vorbeiwandern, den Ehrenfelsweg oberhalb der Burg nehmen, bis zur Verzweigung „Brünneli“ und der Via Spluga folgen. Kehre um Kehre wandern Sie auf wurzeligem Waldpfad aufwärts. Wenn Sie aus dem Schatten der Tannen treten, liegt zu Ihren Füssen ein Burghügel, der bereits zur Bronzezeit genutzt wurde. Imposante Felswände ragen in die Höhe, Wiesen leuchten in der Mittagssonne, erste alte Mauern und eine Informationstafel kündigen den historischen Ort an. Steigen Sie unbedingt den Hang hinauf, Ritter Cuno heisst Sie auf Hohen Rätien willkommen. Mit mehr als 4500 Jahren ist sie eine der ältesten Siedlungsstätten der Schweiz. Ein herrlicher Raum öffnet sich beim Betreten des Plateaus, das von markanten Steinzeugen längst vergangener Zeiten dominiert wird. Die weitläufige Anlage – 165 Meter lang, 60 Meter breit – mit zahlreichen Bäumen, Grillstelle und lauschigen Plätzen thront auf dem mächtigen Felskopf des Johannissteins. Überreste von Sakralbauten, Kirche St. Johann, Wehr- und Pfaffentrum, im Zentrum der dreistöckige Wohn- und Verwaltungsturm Hoch Rialt bilden ein imposantes Ensemble. Mit Traumblicken ins Domleschg, an den Heinzenberg, auf Piz Scalottas, Piz Berverin, Piz Curvér … Unter knorrigen alten Eichen und Kirschbäumen kann die Seele zeitlos baumeln, es ist nicht verwunderlich, dass Geomanten einen starken Kraftort gemutet haben.

Der steile Burgfelsen wurde dem letzten Ritter von Hohen Rätien arg zum Verhängnis … Einer Sage zufolge soll der Kreuzritter Cuno von seinem Recht – use prime noctis – auf die erste Nacht mit der jungfräulichen Braut Gebrauch gemacht haben. Die Familie war sehr entzürnt darüber. Kurzerhand entführte Cuno die Braut und flüchtete nach Hohen Rätien. Eine wilde Meute folgte ihm und drängte ihn an den Abgrund. Im letzten Augenblick konnte die Braut vor dem Absturz gerettet werden, der Ritter aber stürzte mit seinem Ross zu Tode – noch heute erinnern daran die schwarzen Streifen seines Blutes an den Felsen. Übrigens, Hohen Rätien, eine der grössten Burgen Graubündens, ist Schauplatz von C.F. Meyers Novelle „Die Richterin“.

Burg Hohen Rätien mit dem Zentrum Hoch Rialt

Burg Hohen Rätien mit dem Zentrum Hoch Rialt

 

Nach der Stippvisite in eine andere Zeit gehts weiter, der Via Spluga folgend, links hoch zur Waldstrasse; nach 500 Meter zweigt ein schmaler Fusspfad ab nach Traversina und zur Viamala-Schlucht. (Geradeaus lotst der Weg zum Maiensäss Carschenna – dort befinden sich die weithin bekannten, rätselhaften prähistorischen Felszeichnungen, mitten im Wald, auf zehn Steinplatten verteilt mit Kreisen, Spiralen, Tieren, die niemand so recht zu deuten vermag.)

Voller Zauber ist der wurzelige Weg hinab durchs Tobel; mächtige Tannen, Arven, Buchen stehen eng beieinander, lautes Wasserrauschen hallt aus der Tiefe. Riesige moosüberzogene Steine hüten das wilde Gelände. Ein architektonisches Meisterstück des Ingenieurs Jürg Conzett ist der Traversinersteg, der sich über das 70 Meter tiefer liegende Bachbett wölbt. Es ist, als gehe man über eine schwebende Treppe, bei einer horizontalen Spannweite von 56 Metern, ringsum nichts als Felsgewalten.

Der Traversinersteg wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet

Der Traversinersteg wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet

Der weitere Abstieg zum Talboden ist locker, wieder hat sich ein grosser Wurzelteppich ausgelegt. Überhaupt ist der Wanderweg über einige Strecken von kräftigen Wurzeln durchzogen – sie stärken, so scheint es, auch die eigene Erd- und Wurzelkraft. Unten angelangt, gehts zunächst auf breitem Waldboden ebenaus, beim Nesslaboda hinauf und über eine knackige Geländerippe, dann wieder abwärts und direkt zum Besucherzentrum der Viamala-Schlucht. Hier ist was los! Heute ist die Schlucht nicht mehr Schrecken von Durchreisenden, sondern selbst Anreiz für die Reise. Gäste können direkt mit dem Bus oder Auto hierherfahren. Wenn die Viamala einst ihrem Namen „schlechter Weg“ alle Ehre machte und während Jahrhunderten gefürchtet war im alpenquerenden Verkehr, dann genau an dieser Stelle. 35 bis 45 Minuten sollten Sie sich schon Zeit nehmen für die Urgewalt, die über Jahrtausende entstanden ist, als sich Gletscher und Wasser des Hinterrheins durch die Viamala-Schlucht frassen. Über eine Treppenanlage gehts spektakulär in die schaurig-schöne Tiefe, an den Abgrund, an Felsgalerien und gewaltigen Felskunstwerken vorbei. Naturmonumente mit bis zu 300 Meter hohen Felswänden ragen in die Höhe, Licht und Wasser zaubern schönste Farbenspiele, die einen leichten Schauer auslösen. Faszinierend, die vielen Strudeltöpfe, diese runden ausgefressenen Felslöcher mit bis zu 3,5 Meter Durchmesser. Für Friedrich Nietzsche offenbart der Abgrund auch das Abgründige im Menschen: „Ich empfinde die düstere Grossartigkeit der Viamala als Widerschein meines eigenen Wesens.“ Vielleicht wollen Sie zum Abschluss noch einen Kaffee mit Schluchtblick geniessen oder im Kiosk stöbern? Bei der Wildener Brücke gibt es zwei interessante Inforäume, wo Geschichte und Mythos der Schlucht thematisiert werden. Dort ist auch zu erfahren, dass John Knittel mit seinem 1934 erschienenen Roman „Via Mala“ die Schlucht weltberühmt machte. Allerdings formt Knittel die Schlucht etwas um, ein undurchsichtiger Mord auf dem „schlechten Weg“ wird thematisiert …

Voller Naturspektakel, die Viamala-Schlucht

Voller Naturspektakel, die Viamala-Schlucht

Der weitere Weg führt rheinaufwärts, der Fahrstrasse entlang. Nach 250 Meter biegen Sie links ab in die Via Spluga. Ein besonders schöner Abschnitt beginnt durchs lichtdurchflutete Wäldchen, über Steinstufen hinunter zum Hinterrhein. Berauschend nah am Wasser gehts weiter, von einem zahmen Plätschern und tanzenden Licht- und Schattenspielen begleitet. Wuchtige Felsen ragen gen Himmel, noch einmal breitet sich ein starker Wurzelteppich aus, der einen mit der Erde verwurzelt.

Die Via Spluga hat starke Wurzeln

Die Via Spluga hat starke Wurzeln

Beim Queren der eleganten Hängebrücke Punt da Suransuns hat man das Gefühl, über eiskaltem Wasser zu schweben … und weit überm Kopf ist eine Autobahn gespannt. Auf feinste Art trennt der Hinterrhein das Tal, bald windelt sich der breite Waldweg in die Höhe, beim Bächlein Val da Bargias heisst es: Rhein ade! Schön ausgeleuchtet ist der weitere Weg, mit Lärchen, Ahorn, Buchen, von Davos Salegn sind es noch vierzig Minuten nach Zillis. Beschwingt entlang von Trockensteinmauern und stattgrüner Weiden, gehts ins weite bergige Hochtal – und durch eine Postkartenidylle. In den Dörfern Reischen, kurz darauf Zillis erheben sich die typischen, mit Sgraffiti verzierten Steinhäuser, eine herrliche Blütenpracht pulsiert in den Gärten.

 

Die berühmte Kirche St. Martin in Zillis sollten Sie sich unbedingt anschauen, sie wird auch als „Sixtinische Kapelle der Alpen“ bezeichnet. Wohl einzigartig ist die um 1114 entstandene Holzdecke, die aus 153 bemalten Holztafeln besteht. Die erhellende Ausstellung dazu befindet sich bei der Postauto-Haltestelle Zillis (Tipp: erst Ausstellung, dann Kirche besuchen; Zeitbedarf: 35 bis 45 Minuten).

Unterwegs nach Zillis

Unterwegs nach Zillis

Route: Thusis (720 m ü.M.)–Sils im Domleschg (683 m ü.M.)–Burg Ehrenfels (761 m ü.M.)–Burg Hohen Rätien (946 m ü.M.)–St. Albin (920 m ü.M.)–Traversinersteg (902 m ü.M.)–Besucherzentrum Viamala-Schlucht (870 m ü.M.)–Punt da Suransuns (840 m ü.M.)–Davos Salegn (1025 m ü.M.)–Reischen (1010 m ü.M.)–Zillis (945 m ü.M.)

Wanderzeit: 5 Std., Wegstrecke: 14 km; Wanderung: mittel

Anreise: Mit dem Zug von Cazis nach Thusis

Rückreise: Mit dem Postauto ab Zillis

 

Fotonachweis: Karin Breyer, Copyrights «Viamala Tourismus»