Freundschaften – Das Schönste, was es gibt auf der Welt

Freundschaften sind die vielleicht wichtigsten Beziehungen unseres Lebens – denn eine Freundin oder ein Freund lässt uns wachsen und trägt dazu bei, dass wir uns gut fühlen. Oder wieder besser, wenn es uns schlecht geht. Dabei entstehen Freundschaften meist aus sehr profanen Gründen: weil man zufällig im Zug nebeneinander sitzt oder in derselben Abteilung arbeitet.

VON MARIUS LEUTENEGGER

In Karl Mays «Winnetou I» begegnet Old Shatterhand erstmals dem berühmten Apachen-Häuptling – und er zeigt sich von ihm sofort sehr angetan. «Das Haar war so lang, dass es reich und schwer auf den Rücken niederfiel», lässt Karl May seinen Ich-Erzähler schwärmen. «Die Farbe seines Gesichts war ein mattes Hellbraun mit einem leichten Bronzehauch. Ich glaubte zu bemerken, dass in seinem ernsten, dunklen Auge für einen kurzen Augenblick ein freundliches Licht aufglänzte, wie ein Gruss, den die Sonne durch eine Wolkenöffnung auf die Erde sendet. » Bald sollte Old Shatterhand erkennen, dass hinter dem matten Hellbraun mit leichtem Bronzehauch auch noch eine wertvolle Seele hauste: ein Mensch, der dieselben Werte wie er selber hochhielt, der sich mutig für die Schwachen einsetzte und Gerechtigkeit über alles stellte. Weil auch Winnetou spürte, dass Old Shatterhand ein nobler Kerl war, schlossen sich die beiden zu einem der bekanntesten Freundespaare der Literatur zusammen. Sie zelebrierten später gar Blutsbruderschaft und blieben buchstäblich lebenslang unzertrennlich: Winnetou starb in Old Shatterhands Armen.

Einander ohne Worte verstehen
Karl May beeinflusste Generationen von Leserinnen und Lesern. Naja, wohl vor allem Generationen von Lesern. Mit seinen Romanen entfachte er unbändige Sehnsucht nach einem Leben in wilder Freiheit, nach Abenteuern – und eben nach einer tiefen und unzerstörbaren Freundschaft. Einen Freund wie Winnetou an seiner Seite zu haben, das wär’s! Einen Menschen, den man auch ohne viele Worte versteht – Winnetou war schliesslich nicht gerade als Schwätzer unterwegs –, dem man stets vertrauen kann, der einem in jeder Not beisteht. Oder wie es im berühmten Lied heisst, das Heinz Rühmann in «Die Drei von der Tankstelle» trällerte: «Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt. Ein Freund bleibt immer Freund, und wenn die ganze Welt zusammenfällt.» Mit dem Freund fühlt man sich innig verbunden, und das praktischerweise ohne jede Verpflichtung, sondern allein aus gegenseitiger Freude aneinander.

Die Krönung des Soziallebens
Der Mensch ist ein soziales Wesen, und er braucht Kontakt zu anderen Menschen; sonst geht er ein wie eine Blume ohne Wasser. Der britische Psychologe Robin Dunbar fand in Studien heraus, dass unser Gehirn aber nur eine beschränkte Anzahl von sozialen Beziehungen zulässt. Die theoretische Grenze liegt bei 150 Personen – das ist die sogenannte Dunbar-Zahl. Mit gerade einmal 150 Menschen können wir also eine nähere Beziehung unterhalten. Zu ihnen zählen unsere Chefs ebenso wie der nette Kellner im Stammlokal oder die nervige Sopranistin im Chor. Natürlich sind uns nicht alle 150 Menschen gleich nah. Am nächsten kommen uns wohl drei Teilgruppen, die man als Krönung unseres Soziallebens bezeichnen könnte: unsere Verwandten, unsere Liebespartner – und eben unsere Freunde.

Der Friunt stand für alle, die uns nah sind
Lang wurde zwischen diesen Teilgruppen nicht unterschieden, zumindest sprachlich nicht. Der Begriff Freund leitet sich vom althochdeutschen Begriff «friunt» ab, der einst synonym den Freund, den Geliebten oder den Verwandten bezeichnete. Erst ab dem 17. Jahrhundert wurde Freundschaft zu dem, was wir heute darunter verstehen.
Und was ist das genau? In ihrer «Anatomie der menschlichen Beziehungen» definieren die britischen Sozialpsychologen Michael Argyle und Monika Henderson Freundschaft als «eine Form menschlicher Beziehungen, die nicht, wie die Ehe, durch eine Zeremonie begründet ist und auch nicht, wie zwischen Arbeitskollegen oder Verwandten, abhängig ist von irgendwelchen Rollenbezügen. Freundschaft umschliesst Menschen, die einander mögen und gern gemeinsam bestimmte Dinge unternehmen. Sie ist freiwillig und ohne klar umrissene Regeln.» Das Lexikon der Psychologie bezeichnet Freundschaft als «zwischenmenschliche Beziehung, die besonders viel individuellen Gestaltungsspielraum bietet. Freundinnen und Freunde bestimmen selbst, wie die Freundschaft geführt werden soll, wie intensiv, wie nah, wie offen, wie oft und in welcher Art und Weise sie füreinander da sein wollen. Freundschaft kann nicht über bestimmte Inhalte oder Handlungen charakterisiert werden.»

Verdoppelte Freude, halbiertes Leid
Eine Freundschaft erachten wir in der Regel wohl dann als solche, wenn sie uns erlaubt, uns gegenüber der Freundin oder dem Freund so zu geben, wie wir sind. Es gibt wenig Verstellung; man fühlt sich aufgehoben, in seiner Gänze angenommen, und hat daher auch gar keinen Grund, dem Gegenüber etwas vorzugaukeln. Von Freunden erwarten wir, dass sie uns gegenüber ehrlich sind; in der Familie, wo jeder mit jedem verbandelt ist und stets auch Eigeninteressen verfolgt, ist diese Erwartung weniger stark. Ein gälisches Sprichwort besagt: «Der beste Spiegel ist das Auge eines guten Freundes», und dem lässt sich kaum widersprechen. Freundschaft stärkt uns, macht Mut und lässt uns unsere guten Seiten hervorkehren.
Ausserdem unterstützen uns Freunde in Notsituationen und machen Unerträgliches erträglicher. Freundschaften sind also fraglos eine Ressource – und sie helfen, unsere eigenen Ressourcen besser zu nutzen. Natürlich hat die Wissenschaft das alles schon minutiös belegt. Der Freiburger Psychologieprofessor Markus Heinrichs und sein Team konnten zum Beispiel in einer Studie nachweisen, dass die Anwesenheit von Freunden die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol signifikant dämpft. Freunde beruhigen uns also.

Freundschaft = Liebe minus Sex
Das alles riecht irgendwie nach Liebe, und tatsächlich sind Freundschaften den Liebesverhältnissen ziemlich ähnlich. Der französische Psychoanalytiker Saverio Tomasella sagte in einem Interview: «Freundschaften können genauso stark, leidenschaftlich, intensiv, dauerhaft, tief und intim sein wie Liebesbeziehungen. Der einzige Unterschied ist, dass es in einer Freundschaft keine Sexualität gibt. Das schliesst zeitweiliges Begehren nicht aus. Aber bei der Liebe in einer Freundschaft geht es um etwas anderes als um Sex. Ein Freund ist weder ein Partner noch ein Kumpel, sondern ein Mensch, mit dem wir etwas teilen, und zwar etwas ganz Besonderes, Tiefes, Authentisches und Persönliches.» Die Faustregel lautet also ganz einfach: Freundschaft ist Liebe minus Sex.

Räumliche Nähe und regelmässige Begegnungen
Vergleichen lassen sich Liebe und Freundschaft auch hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte. Die meisten Romanzen beginnen ja ganz profan im beruflichen Umfeld oder via zufällige Begegnung bei gemeinsamen Bekannten oder Aktivitäten – und so ist es auch mit Freundschaften: Ein wichtiger Treiber ist räumliche Nähe. Wen man immer wieder sieht, zum Beispiel die Kollegin am Nebentisch oder den Kommilitonen, gewinnt an Bedeutung. Man bekommt irgendwann Lust, etwas miteinander auch ausserhalb des gewohnten Umfelds zu unternehmen, man trifft sich wieder und wieder, und so entwickelt sich mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis. Die Sozialpsychologin Beverly Fehr von der University of Winnipeg untersucht seit 30 Jahren, wie Freundschaften entstehen und sich entwickeln. Sie sagt: «In den frühen Stadien ist entscheidend, dass die Selbstoffenbarung erwidert wird.» Nur wenn beide sich öffneten und dabei ein gewisses Risiko eingingen – nämlich das Risiko, verletzt zu werden –, könne sich Vertrauen entwickeln.

Mit 25 nimmt die Zahl der Freunde ab
Freunde kann man überall finden, und das auch in jedem Alter. Allerdings verändern sich die Ansprüche an Freundschaft im Verlauf des Lebens. Die ersten Freundschaften werden für gewöhnlich im Alter von etwa drei Jahren geschlossen, in der Spielgruppe zum Beispiel. Meist ergeben sich solche Verbindungen völlig zufällig. Kinder sind in diesem Alter noch sehr selbstbezogen und wenig am Schicksal anderer interessiert, Freundschaften bleiben daher austauschbar und können auch einmal nur einen Tag lang anhalten. Mit zunehmendem Alter werden die Verbindungen stabiler. Psychologen der Université de Québec haben in einer Studie aufgezeigt: Während Erstklässler im Schnitt nur jeden zweiten Freund auch im nächsten Schuljahr noch als solchen bezeichneten, waren es bei Viertklässlern bereits 75 Prozent. Eine andere Studie der Universitäten von Aalto und Oxford zeigt, dass es ums 25. Lebensjahr zu einer Wende kommt: Bis dann vergrössert sich der Freundeskreis, danach wird dieser immer kleiner. Man konzentriert sich auf weniger Menschen, deren individuelle Bedeutung nimmt aber zu. Eine Grenze, wie viele Freunde man haben kann, gibt es übrigens nicht – auch wenn immer wieder zu hören ist, fünf Freunde seien das Maximum. Belegen lässt sich eine solche Faustregel nicht.

Gleich und gleich? Muss nicht sein
Zur Freundin oder zum Freund taugt also zunächst einmal, wem wir oft begegnen. Und darüber hinaus? Gilt eher der Grundsatz «Gegensätze ziehen einander an» oder das gute alte Motto «Gleich und gleich gesellt sich gern»? Dazu gibt es unzählige Studien, die einander aber oft widersprechen. Auf den ersten Blick scheint klar, dass wir uns eher zu Menschen hingezogen fühlen, die uns ähneln. Mit ihnen können wir Dinge unternehmen, an denen wir Spass haben, von ihnen fühlen wir uns verstanden, sie können uns immer wieder bestätigen. Andererseits: Wachsen können wir vor allem am Andersartigen. Es zwingt uns, unsere eigenen Positionen zu hinterfragen, und wir können von ihm lernen. Gerade aus Konflikten ergeben sich manchmal tiefe Freundschaften. Noch einmal der Psychoanalytiker Saverio Tomasella: «Eine Bewunderung kann dadurch entstehen, dass der andere auf ehrliche und wohlwollende Weise dagegengehalten hat. So entsteht gegenseitiger Respekt vor dem Mut und der Fähigkeit des anderen, seine Ideen zu verteidigen und sich zu schützen. Im Anschluss an Konflikte können sehr starke und zuverlässige Freundschaften entstehen, denn es gibt keine Heuchelei.»

Die Grüne und der Schwarze
Tatsächlich lassen sich viele Beispiele von Freundschaften anführen, die auf den ersten Blick eher schräg anmuten. Eine solche verbindet zum Beispiel die deutsche Grüne Claudia Roth und den früheren bayerischen Innenminister Günther Beckstein von der CSU, der einst als schwarzbürgerlicher Hardliner galt. Auf die Frage, was sie an Beckstein mag, antwortete Claudia Roth: «Der Günther bleibt sich treu, das schätze ich. Vielleicht  ist es das, was uns verbindet: die Treue zu Auffassungen. » Umgekehrt sagt Günther Beckstein: «Toleranz heisst ja nicht, unterschiedliche Meinungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Toleranz heisst, auch bei seinen Standpunkten zu bleiben, sich ernsthaft mit der anderen Meinung zu beschäftigen. Nähe entsteht, wenn man den anderen ernst nimmt. Wenn man offen reden kann.» Aber das erklärt natürlich noch nicht, warum man einander ins Herz schliesst. Dazu können allerdings auch Claudia Roth und Günther Beckstein nicht viel sagen: «Ich fand die Claudia sehr sympathisch », so Beckstein ganz profan. «Es gefällt mir, dass sie so spontan ist.» Es ist wie mit der Liebe: So ganz genau lässt sich nie sagen, warum man sich zu jemandem hingezogen fühlt. Es bleibt ein mystisches Element, etwas, das aus dem Bauch herauskommt.

Der Nazi und der Antifaschist
Noch viel eigenartiger als die Freundschaft zwischen Claudia Roth und Günther Beckstein mutet jene zwischen Erich Fried und Michael Kühnen an. Da bleibt einem wirklich nur ungläubiges Staunen. Der Österreicher Erich Fried war ein jüdischer Dichter und glühender Antifaschist, der Deutsche Michael Kühnen ein ebenso glühender Hitlerverehrer und selbsternannter Führer der deutschen Neonazis. Die beiden sollten 1983 im Rahmen einer Fernsehdebatte aufeinander treffen, doch Kühnen wurde kurzfristig ausgeladen. Erich Fried ärgerte dies sehr; er stand stets für eine offene Streitkultur ein. Kühnen zeigte sich vom Engagement des politischen Gegners beeindruckt – und so entstand zwischen den beiden eine Beziehung, die bis zu Kühnens AIDS-Tod 1991 anhielt und die man mit Fug und Recht als Freundschaft bezeichnen kann. Als Kühnen 1985 wegen Volksverhetzung ins Gefängnis kam, besuchte ihn der Dichter. Viele Briefe, welche die beiden einander schrieben, sind überliefert – und rührende Beispiele für Freundschaft. Fried schrieb Kühnen: «Du bedeutest mir natürlich viel, auch dann, wenn ich Dich nie von etwas überzeugen könnte. Das ist so, wie wenn ich einem von meinen Kindern sage: ‹Das ist meine Meinung: tust Du aber das Gegenteil, so bedeutest Du mir noch genauso viel, und ich werde Dir immer noch zu helfen versuchen und für Dich da sein.›»

Das Ende kommt oft schleichend
Claudia Roth, Günther Beckstein, Erich Fried und Michael Kühnen: Sie alle wurden wegen ihren Freundschaften von ihrem jeweiligen Lager angefeindet. Freundschaften können durchaus etwas Gefährliches haben. Auch auf anderer Ebene: Sie können toxisch wirken. Dann zum Beispiel, wenn sie nicht auf Augenhöhe funktionieren, sondern der eine Teil den anderen ausnutzt oder manipuliert. Hilfsbereite Menschen haben es oft besonders schwer, echte Freunde zu finden, weil jede Beziehung rasch in Schieflage gerät. Und wie Liebesbeziehungen enden manchmal auch Freundschaften schmerzhaft. Kürzlich ging eine Freundschaft zu Bruch, die der Autor dieser Zeilen während Jahrzehnten pflegte. Der gegenseitige Respekt vor der Meinung des Gegenübers, die oft stark von der eigenen abwich, war unter dem Einfluss einiger Wässerchen plötzlich wie weggeblasen – und das erschütterte das Vertrauensverhältnis zutiefst. Freundschaften enden in der Regel aber nicht auf eine derart heftige Art, sondern eher schleichend: Der eine zeigt weniger Engagement, man trifft sich seltener, die Sache verläuft irgendwann im Sand, ohne dass man genau wüsste warum. Vielleicht haben sich die Lebensumstände verändert. Sehr oft stehen neue Partnerschaften am Ende einer Freundschaft. Der niederländische Sozialforscher Matthijs Kalmijn fand anhand von 3000 Probanden heraus: Bei Männern halbiert sich die Zahl der freundschaftlichen Kontakte von 14 pro Monat nach der Heirat auf die Hälfte. Bei Frauen ging es von 13 auf 6 Kontakte runter. Liebe und Freundschaft scheinen sich also nicht ideal zu vertragen.

Die Statistik hat nicht immer Recht
Apropos: Wie sieht es eigentlich mit der Freundschaft zwischen Männern und Frauen aus? Der berühmte Film «When Harry Met Sally» behandelt genau dieses Thema – und da wird aus Freundschaft eben doch noch Liebe. Tatsächlich zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass gleichgeschlechtliche Freundschaften stabiler sind und länger anhalten als solche zwischen Mann und Frau. Für den Einzelfall heisst das indessen nichts, wie Claudia Roth und Günther Beckstein beweisen. Und Winnetou und Old Shatterhand waren ja auch Freunde bis in den Tod – obwohl die Statistik belegt, dass Freundschaften zwischen Menschen gleicher Ethnie eher halten als solche zwischen Menschen verschiedener Herkunft. Wahre Freundschaft kümmert so etwas indessen nicht. Der griechische Philosoph Aristoteles, der viel über Freundschaft nachdachte und schrieb, bezeichnete sie als «Seele in zwei Körpern». Und Seelen haben schliesslich weder Hautfarbe noch Geschlecht!

 

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