Gesund alt zu werden – davon träumen wir alle. Doch wie schafft man das? Prof. Dr. Dr. Heike Annette Bischoff-Ferrari, Lehrstuhlinhaberin Altersmedizin und Altersforschung an der Universität Zürich sowie Gastprofessorin Geroscience am Universitätsspital Toulouse (F), kennt das Geheimnis.

VON SUSANNE STETTLER

«Lebensstilfaktoren können genetische Risiken an- oder ausschalten.» Prof. Dr. Dr. Heike Annette Bischoff-Ferrari, Lehrstuhlinhaberin Altersmedizin und Altersforschung an der Universität Zürich

Wie lange kann man heute gesund alt werden und ab welchem Alter ist das eine Illusion?
Anhand der aktuellen, sich auf das Jahr 2020 beziehenden europäischen Zahlen zur Langlebigkeit beträgt die durchschnittliche gesunde Lebenserwartung bei Frauen 64,5 Jahre und bei Männern 63,5 Jahre. Sie liegt damit weit unter der totalen Lebenserwartung, welche im Durchschnitt bei Frauen 83,2 Jahre und bei Männern 77,5 Jahre beträgt. Die Schweizer Werte sind höher als dieser Durchschnitt, aber auch bei uns positioniert sich die gesunde Lebenserwartung etwa 20 Prozent unter der totalen Lebenserwartung. Die Forschung zeigt, dass wir unsere gesunde Lebenserwartung wesentlich über Lebensstilfaktoren beeinflussen können. In der diesbezüglich grössten Untersuchung in den Harvard Kohorten zeigte sich, dass Frauen, die fünf gesunde Lebensstilfaktoren befolgten, mit 50 Jahren eine vierzehn Jahre höhere Lebenserwartung hatten als ihre Altersgenossinnen, die keine dieser fünf Lebensstilfaktoren beachteten. Bei den Männern war es genauso, allerdings mit einem Gewinn von zwölf Jahren an Lebenserwartung.

Und welches sind diese fünf gesunden Lebensstilfaktoren?
Gemäss dieser Studien sind es Tabakverzicht, gesunde Ernährung, täglich 30 Minuten Bewegung, normales Körpergewicht sowie mässiger Alkoholgenuss. Wichtig in dieser Untersuchung war, dass die gesunde Lebenswartung mit jedem einzelnen dieser gesunden Lebensstilfaktoren zunahm. Zusammengefasst werden wir bereits heute in einem Spektrum älter und können uns biologisch deutlich jünger fühlen und biologisch jünger sein.

Was muss ich also tun, um möglichst lange gesund zu bleiben?
Die Genetik alleine trägt nur etwa 10 bis 30 Prozent zur gesunden Lebenserwartung bei. Der Rest sind Umgebungs-, soziale und vor allem Lebensstilfaktoren. Letztere beeinflussen unsere Epigenetik, welche genetische Risiken an- und ausschalten können. Zu den zentralen epigenetischen Faktoren, die unseren biologischen Alterungsprozess beeinflussen, gehören Bewegung – sehr gut sind 8000 bis 10 000 Schritte am Tag –, nicht zu rauchen, Menschen zu treffen, anderen zu helfen und Freundschaften zu pflegen, offen zu sein für Neues und neue Dinge zu lernen, gesunder Schlaf, Achtsamkeitstraining sowie gesunde Ernährung.

Die Bereitschaft, Neues zu lernen und ausreichend Bewegung, halten jung.

Die Bereitschaft, Neues zu lernen und ausreichend Bewegung, halten jung.

Was gilt es besonders hervorzuheben?
Dass diese Faktoren nicht nur ein Risiko senken, sondern in der Prävention Multitalente sind. Sie schützen vor altersbezogenen Krankheitsrisiken wie Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs. Zudem helfen sie uns, länger und mit weniger Kraftverlust aktiv zu sein, sie verringern Arthrose-Schmerzen ebenso wie das Sturzrisiko und verhelfen zu einer besseren mentalen Gesundheit und einer besseren Gedächtnisfunktion im Alter.

Wann muss ich beginnen, gesundheitlich fürs Alter vorzusorgen?
Idealerweise schon vor der Geburt! In aktuellen Forschungsprogrammen arbeiten daher Fachärzte in der Geburtshilfe mit der Altersmedizin zusammen. Gleichzeitig zeigt die Forschung, dass es nie zu spät ist, um mit einem gesunden Lebensstil zu beginnen. Und hier geht es darum, das Potenzial der Kombination zu nutzen. Mehrere kleine und machbare Veränderungen in verschiedenen Lebensstilfaktoren haben ein enormes Gewicht – auch weil wir damit längerfristige und nachhaltige Ziele erreichen.

Inwiefern lassen sich mit diesen Massnahmen genetische Prädispositionen austricksen?
In der genetischen Forschung zeigt sich, dass der Ausbruch einer erblichen Vorbelastung für verschiedene Erkrankungen wie Demenz oder Krebs wesentlich von Lebensstilfaktoren beeinflusst wird. Diese haben einen Effekt auf unsere Epigenetik, die den Ausbruch oder das Verstummen von genetischen Risiken regulieren kann.

Wie beeinflussen Komponenten wie Geschlecht, Bildung oder soziale Schicht die Chance auf ein gesundes Alter?
Soziale Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Eine bessere Bildung und Wohlstand sind mit einer höheren Lebenserwartung verbunden. Gleichzeitig sehen wir in den sogenannten «Blue Zones», Gebieten also, in den Menschen überdurchschnittlich alt und überdurchschnittlich gesund älter werden, dass das soziale Netzwerk und eine wichtige Aufgabe im Leben auch unabhängig von Wohlstand und Bildung die gesunde Lebenserwartung bestimmen. Die Männer holen in der Lebenserwartung auf, insbesondere über einen gesünderen Lebensstil und die Pflege eines sozialen Netzwerkes.

Was kann jemand tun, der im Alltag wenig oder kaum Zeit für Sport hat?
Bewegung naschen. Das bedeutet, jede Möglichkeit zu nutzen, um ein aktives Leben zu führen. Jeder Schritt und jede Treppe zählen. Enorm wertvoll ist es, sitzende Phasen regelmässig zu unterbrechen und bewusst Bewegung in den Alltag einzubauen. Dazu kommt, dass körperliche Aktivität die Leistungsfähigkeit verbessert, man also eine aktive Pause wieder aufholt und gleichzeitig fit bleibt.

Genügend Schlaf und soziale Kontakte senken das Demenzrisiko.

Was gilt es nach der Pensionierung zu beachten?
Aktiv bleiben, insbesondere in Gesellschaft und für andere Menschen. Dabei neue Dinge und neue Menschen kennenlernen sowie neue Aufgaben übernehmen, die uns sozial verbinden und Freude bereiten. Hier geht es ganz zentral auch darum, Einsamkeit zu vertreiben. Neueren Daten zufolge ist Einsamkeit eine Epidemie, die ältere und jüngere Menschen betrifft und unserer Gesundheit sowie unserer gesunden Langlebigkeit schadet. Einsamkeit ist gefährlicher für unsere Gesundheit als Übergewicht, gefährlicher als 15 Zigaretten am Tag und gefährlicher als Immobilität. Mehr noch: Sie verdoppelt das Demenzrisiko. Ursachen dafür sind die abnehmende Stimulation für unser Gehirn und der enorme Stress, wenn man sich alleine fühlt.

Welches sind Ihre Tipps bezüglich der geistigen Fitness?
Eine umfassende Risiko-Analyse ergab, dass 40 Prozent aller Demenzerkrankungen durch Prävention vermieden werden könnten. Das von der Harvard Universität entwickelte «Shield your Brain»-Konzept definiert sechs Faktoren, die vor einer Demenz schützen: sieben bis acht Stunden Schlaf, Stressregulation mit Achtsamkeitsübungen, Einsamkeit vermeiden, soziale Interaktionen pflegen, tägliche Bewegung – insgesamt 150 Minuten pro Woche –, Neues lernen sowie gesunde Ernährung. Dazu sind täglich eine Handvoll Beeren und Nüsse regelrechte «Superfoods» für den Erhalt der Gedächtnisfunktion.

Welche Rolle spielt die Ernährung?
Eine zentrale! Empfehlenswert ist insbesondere die mediterrane Diät mit viel Gemüse, Olivenöl als Fettquelle, komplexen Kohlenhydraten, gesunden Eiweissquellen wie Hülsenfrüchten, Nüssen und Fisch, wenig rotem Fleisch und einem Glas Rotwein pro Tag. Dazu gehört, dass man die frischen Zutaten selbst einkauft, das Essen selbst zubereitet und mit Familie und Freunden geniesst. Damit finden die physische Aktivität und die soziale Interaktion ebenfalls statt. Zudem ist die Zubereitung eines Essens eine komplexe koordinative Aufgabe, welche die Gedächtnisfunktion stärkt.

Wann sind Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll?
Eine ausgewogene Ernährung deckt alle wichtigen Mikround Makro-Nährstoffe ab, ausser Vitamin D. Vitamin D hat als Hauptquelle die Sonne und kann in den Monaten November bis März nicht genügend in der Haut gebildet werden, weil während des Winters in ganz Europa die Sonnenintensität nicht ausreicht. Dazu kommt, dass wir mit zunehmendem Alter weniger Vitamin D in der Haut zu produzieren in der Lage sind. Wir empfehlen daher insbesondere ab 65 eine Supplementation mit 800 IE am Tag zur Prävention eines Vitamin-D-Mangels. Das beugt ausserdem Knochenbrüchen, Stürzen und akuten Atemwegsinfekten vor.

Welches sind die neuesten Erkenntnisse in der Langlebigkeits-Medizin?
Neuere Studiendaten weisen darauf hin, dass bezüglich der Prävention von Krebs und Autoimmunerkrankungen auch Menschen von einer Vitamin-D-Supplementation profitieren, die relativ gesund sind und keinen Nährstoffmangel aufweisen. So zeigte sich in der grossen amerikanischen VITAL-Studie mit 25 000 Menschen im Alter von 50 und mehr Jahren, die während fünf Jahren Vitamin D zuführten, eine Verminderung
von fortgeschrittenen Krebserkrankungen um 17 Prozent, eine Senkung der Krebssterblichkeit um 28 Prozent und eine Abnahme von neuen Autoimmunerkrankungen um 22 Prozent. In unserer europäischen DO-HEALTH-Studie mit 2157 Personen im Alter von 70 und mehr Jahren bewirkte die gleiche Dosierung – täglich 2000 IE Vitamin D über drei Jahre hinweg – in Kombination mit der Einnahme von einem Gramm Omega-3-Fettsäuren pro Tag und einem einfachen Krafttrainings-Programm für zu Hause eine 61-prozentige Verminderung neuer Krebserkrankungen. Darüber hinaus reduzierte diese Dreierkombination das Risiko für vorzeitige Gebrechlichkeit um 39 Prozent.

Vor einigen Jahrzehnten war man mit 70 Jahren ein alter Mensch. Wo ziehen Sie diese Grenze heute?
Laut einer Umfrage des Gottlieb Duttweiler Instituts unter 70- bis 80-Jährigen in der Schweiz fühlen sich Männer heute 18 Jahre und Frauen 12 Jahre jünger, als sie tatsächlich sind. Das passt zu den Ergebnissen der europäischen DO-HEALTH-Studie, derzufolge über 50 Prozent der Schweizer Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter 70 plus sogenannte «Healthy Ager» waren. Das heisst, diese Menschen hatten funktionell keine Einschränkungen, keine Beeinträchtigung der Gedächtnisfunktion und keine chronischen Erkrankungen. Damit deckt sich das gefühlte jüngere biologische Alter mit einer besseren Gesundheit. Zusammengefasst ist das «Alter» nach hinten gerückt – heute kann man mit 70 noch jung sein. Die Lebenserwartung in der Schweiz beträgt derzeit 81,6 Jahre für Männer sowie 85,7 Jahre für Frauen.

Wie wird sich das in Zukunft entwickeln?
Wir erwarten eine weitere Zunahme der totalen Lebenserwartung. Die Verlängerung der gesunden und nicht nur der totalen Lebenserwartung ist das, woran wir im Rahmen der Forschungsbrücke Toulouse–Zürich im Longevity- und Geroscience-Programm «HealthAge» arbeiten. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat hierzu am 16. Mai 2023 einen Meilenstein definiert: Das Programm ist bisher für Frankreich mit über 50 Millionen Euro finanziert und hat seit der Zusprache des Präsidenten wichtige Partner gewonnen wie zum Beispiel «La Poste», die Unfallversicherung AXA-Frankreich und die französische Rentenversicherung. Nun geht es darum, dieses Netzwerk auch für die Schweiz zu etablieren.

Laut dem Bundesamt für Statistik gab es 2022 pro 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz 22 Hundertjährige. Wird diese Zahl steigen?
Wir erwarten bis 2050, dass jeder dritte Mensch in der Schweiz und Europa 65 Jahre und älter sein wird. Und wir gehen davon aus, dass jedes dritte Neugeborene seinen 100. Geburtstag erleben wird.