Ist unsere on-line Sucht die neue Droge

Ein Gespräch mit Dr. David Bosshart, dem Leiter der ältesten Denkfabrik der Schweiz, dem Gottlieb- Duttweiler-Institut über den allgegenwärtigen Medien-Overkill.

Von Kurt Aeschbacher

Wie «viel Vernetzung» braucht ein Mensch heutzutage (und in Zukunft), um gesellschaftlich und beruflich nicht ins Abseits zu geraten
Dem grossen Vordenker der neuen Medienwelt, dem Kanadier Marshall McLuhan, wird die schöne Aussage zu geschrieben «We shape our tools, and afterwards our tools shape us». Wir sind heute längst Teil der Maschine. Es gibt nicht dort das Smartphone und hier bin ich – ich bin das Smartphone und das Smartphone ist Teil meiner Identität. Das «wieviel» ist individuell sehr unterschiedlich – vielleicht zwischen 10% und 100% – wir sind in einem Lernprozess, den wir permanent für unsere eigenen Bedürfnisse hinterfragen müssen. Es geht um die Frage, wie wir am besten lernen und unser Leben bereichern können. Das braucht eine Mischung aus Disziplin und Kreativität.

Welche Strategie haben Sie, um sich nicht von Pushnachrichten, WhatsApp Meldungen, etc. abzulenken
Grosszügig deleten. Nur wenigen Menschen und Institutionen Zugang gewähren. Ich bin nicht auf Linkedin oder Xing oder Facebook. Der Punkt ist: Wenn wir immer mehr Informationen bekommen, müssen wir mehr Entscheidungen fällen über den ganzen Tag, und die mentale und körperliche Verfassung variiert sehr stark. Dadurch nimmt auch die Qualität der Entscheidungen ab. Da nützt es nichts, wenn man einfach gut organisiert ist oder delegieren kann. Auch Talent hilft nicht weiter, wenn man «zuvielisiert» daherkommt, also mit einem Zuviel an allem umgehen muss. Da hilft nur strikte Selektivität und Konsequenz. Und Mut, den für einen selbst richtigen Weg zu finden und zu gehen.

Droht den heutigen Jugendlichen eine Art der online-Sucht
Wo Menschen, da Drogen. Das ist eine historische Konstante. Und von Drogen kann man nun mal abhängig werden, wobei «Drogen» sehr weit gefasst werden kann. Nehmen wir Bio Hacking, einen der derzeit wichtigsten Trends. Hier geht es darum, den eigenen Körper so gut zu kennen, dass man seine Natur überwinden, ihn kontinuierlich verbessern und letztlich wiederverzaubern kann. Beispiel: Wir sprechen heute nicht mehr von Food, sondern von Superfood. Superfoods besitzen von Natur aus Stoffe, denen eine gesundheitsfördernde oder leistungssteigernde Wirkung nachgesagt wird. Ingwer oder Avocado oder selbst Sauerkraut. Wir sprechen ihnen aber übernatürliche Kräfte zu – und es wirkt, denn Placebos helfen. Das ist der Eintritt. Der nächste Schritt sind Nootropics, sogenannte Smart Drugs – Nahrungsergänzungsmittel, welche die Gehirnfunktion auf unterschiedliche Weise unterstützen. Das Spektrum reicht von rein pflanzlich bis zu voll synthetisiert. Die angesprochene Online-Sucht fügt sich hier nahtlos ein, die Grenzen zwischen gefühlter Normalität und Sucht sind selbstverständlich fliessend. Es ist auch kein Zufall, dass Cannabis den schnellstwachsenden Retail-Markt in den USA darstellt. Wir legalisieren, was früher Drogen waren, vom ADHS-Medikament Adderall bis zu schwach dosiertem LSD. Denkvermögen und Kreativität werden so auf eine nächste Stufe gehoben. Menschen nutzen diese Entwicklungen sehr unterschiedlich, aber was für Jugendliche gilt, gilt immer mehr auch für ältere Menschen – die Altersgrenze für Experimente verschiebt sich nach oben. Wer Lust hat und experimentiert, kann unheimlich viel lernen. Wer sich allem versagt, wird auch keine spannenden Erfahrungen machen. Nur, wo genau die Grenzen liegen, wird immer volatiler.

Wie verändern die sozialen Medien Ihrer Ansicht nach die Wahrnehmung der realen Welt
Wir verhalten uns tribaler. Wir orientieren uns mehr an Menschen, die ähnlich sind wie wir, den sogenannten Peers. Wir werden uns selbst immer ähnlicher, weil wir uns immer präziser kennen lernen. Während es bis vor kurzem die Romantik des Quartiers oder der Nachbarschaft gab, gibt es heute die Romantik des Bildschirms. Immer mehr Beziehungen werden nicht mehr über zufällige Bekanntschaften im realen Leben vertieft, sondern durch genaues Matching nach präzisen Kriterien auf Dating-Apps wie Tinder oder – rudimentärer – wie Facebook. Der geographische Raum weitet sich dadurch immer mehr aus. Mit nur einem Klick finde ich vielleicht einen spannenden Partner, der gemäss meinen Kriterien fünf Prozent besser zu mir passt als mein jetziger, der dafür aber 10’000 Kilometer weiter entfernt lebt. Die spannende Frage ist hier, ob der Zufall oder die genaue Kalkulation mehr Lebensglück bringe. Die Technik ist faszinierend, schraubt aber die Erwartungen der Menschen an andere Menschen immer weiter nach oben. Dadurch steigt das Risiko, dass wir unglücklicher werden. Zudem spiegeln uns die sozialen Medien vor, es gehe den anderen immer blendend. Wir haben die Illusion, dass alle anderen coole Weekends haben, permanent an tollen Parties sind, und nur ich ein Verliererleben mit lauter Enttäuschungen führe. Auf Social Media wird das eigene Leben permanent nach oben gelogen, während Analysen unseres Nutzerverhaltens – Searches, Swipes, Clicks – viel sehr, sehr viel prosaischere Realitäten aufdecken. Nüchtern und enttäuschend. Oder eben menschlich.

Wie verändert sich das Verhalten durch die neuen Technologien?
Das können wir im Moment noch nicht abschätzen. Sicher ist nur, dass immer stärkere Rechenleistung auf schwache Menschen treffen, die gerne Convenience haben, sprich das Ausleben von Bequemlichkeit und wohl auch Faulheit noch so gerne annehmen. Die Komplexitätstoleranz nimmt zumindest im Alltag ab: Ich will nicht mehr warten, sofort die Lösung bekommen, und die muss einfach sein. Die Aufmerksamkeitsspanne nimmt vermutlich weiter ab. Wir brauchen eine immer intensivere Stimulierung, um uns noch angesprochen zu fühlen. Zum Beispiel bei Rabatten für Kleider. Wo früher 10 oder 20 % Rabatt die Menschen in die Läden brachte, braucht es heute 40 oder 50 % oder mehr. Wir sind misstrauischer gegenüber Institutionen und Menschen geworden, weil die Transparenz zunimmt und wir dadurch immer mehr über sie wissen, auch Schlechtes. Dadurch brauchen wir mehr Beweise, um Vertrauen zu schenken. Das dürfte die logische Folge des Endes von zentralisierenden Medien sein: Früher schauten jeder «Tagesschau» oder «10 vor 10», und am Samstagabend sassen alle vor dem Fernseher und guckten «Einer wird gewinnen» mit Hans Joachim Kulenkampff oder «Wünsch Dir was» mit Dietmar Schönherr und Vivi Bach. Und am Montagmorgen sprachen alle in der Fabrik über die Sendung und den tiefen Ausschnitt von Vivi Bach. Eine solche Synchronisierung des Massen-Erlebens, bei dem alle dasselbe schauen und dasselbe für richtig und gut befinden, das ist heute unvorstellbar. Wenn Netflix und Youtube dominieren, nimmt auch die soziale Komplexität exponentiell zu – und wir vereinfachen wieder, indem wir uns vorwiegend noch mit unseren «Peers» unterhalten. Denn das ist bequem, schafft leicht Anschluss, und schliesst aus, wer anderer Meinung ist.

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Verbieten ist immer die letzte der Möglichkeiten, dann hat man schon verloren. Wenn wir nicht selbst und freiwillig uns die Grenzen setzen können, werden wir immer einen Weg finden, diese zu umgehen.

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