Kein Stress mit Schlafen

Warum fällt es vielen so schwer, gut zu schlafen? Weil wir unsere individuellen Schlafbedürfnisse zu wenig ernst nehmen. Dabei ist Schlaf für uns überlebenswichtig.

VON MARIUS LEUTENEGGER

Einschlafen ist nie das Problem. Das war es noch nie. Lege ich mich kurz vor Mitternacht hin, bin ich nach spätestens fünf Minuten weggetaucht – kein Wunder, müde, wie ich bin. Doch nach einer Stunde wohlig warmen Schlafs kommt unweigerlich ein heftiger Stoss kalter Wachheit. Es fühlt sich wirklich so an: als würde Wachheit durch mich schiessen. Fast immer ziehe ich dann vom
Bett aufs Sofa. Neues Spiel, neues Glück! Etwa um drei Uhr ist dann aber endgültig Schluss: Ich bin hellwach, als wäre es nicht mitten in der Nacht, sondern der sonnigste Tag angebrochen. Jetzt hilft nichts mehr. Irgendwann hole ich den Laptop und schaue eine Serie. Ich nehme an, dass mein Verhalten gänzlich falsch ist – man liest ja immer wieder, das blaue Licht des Bildschirms sei Gift für den Schlaf –, aber ich bin, wie die meisten Menschen, ein Gewohnheitstier. Immerhin quält mich Schlaflosigkeit psychisch nicht mehr. Die Zeiten, in denen ich mich geradezu darauf verkrampfte, endlich wieder einzuschlafen, liegen Jahre zurück, ich akzeptiere die Situation, so, wie mir das auch einmal ein Therapeut empfahl. Habe ich Glück, dämmere ich jetzt noch einmal weg, während Dr. House gerade einen Mitarbeiter zur Schnecke macht. Doch ich habe das Gefühl, jede halbe Stunde auf die Uhr zu schauen. 4 Uhr. 4.30 Uhr. 5 Uhr … und dann die Erlösung: 6.30 Uhr. Jetzt, glaube ich, könnte ich wohl endlich wieder schlafen, aber das geht nicht mehr. Der Tag ruft. Mit 1001 Herausforderungen!

Eine Seuche!

Es ist ein schwacher Trost, aber immerhin: Ich bin mit meiner Schlaflosigkeit nicht allein. Die Schweizerische Gesundheitsbefragung, die das Bundesamt für Statistik alle fünf Jahre durchführt, belegt: Etwa ein Drittel der Bevölkerung leidet unter gelegentlichen oder regelmässigen Einschlaf- oder Durchschlafstörungen. Mit dem Alter nimmt auch die Problematik zu, Männer sind laut der Befragung generell etwas weniger betroffen als Frauen. Schlaflosigkeit ist also eine regelrechte Volkskrankheit. Aber, ketzerisch gefragt: Ist es eigentlich schlimm, wenn man nicht schlafen kann? Natürlich schränkt dauernde Müdigkeit die Lebensqualität ein, zuweilen sogar massiv. Ich fühle mich nie frisch, und langweilige Sitzungen sind oft eine Qual; je weniger in meinem Leben läuft, desto stärker überkommt mich tagsüber eine schon fast schmerzhafte Müdigkeit. Aber darüber hinaus? Was fehlt mir? Das lässt sich gar nicht so einfach beantworten – denn die Wissenschaft weiss bis heute nicht genau, warum
wir überhaupt schlafen.

Keine reine Ruhephase

Bei Goethe hiess es noch: «Über allen Gipfeln ist Ruh. Warte nur! Balde ruhest du auch»; mittlerweile ist aber klar, dass Schlaf keine reine Ruhephase ist. «Als man Mitte des 19. Jahrhunderts begann, Hirnströme zu messen und sichtbar zu machen, merkte man schnell, dass der Schlaf ein sehr aktiver Zustand ist», sagt Esther Werth. Die Somnologin – also Schlafexpertin – leitet das Schlaflabor Neurologie am Universitätsspital Zürich. Bereits die frühen Hirnstrommessungen zeigten, dass im Schlaf wichtige Informationen besser gespeichert und unwichtige Informationen ausgefiltert werden. Das Gehirn läuft tagsüber auf Hochtouren und hat, vereinfacht gesagt, schlicht keine Zeit, die vielen Eindrücke sauber zu archivieren. Alle Informationen werden daher im Hippocampus zwischengelagert; es ist, als würde dort ein riesiger Pendenzenberg angelegt. Prasseln dann in der Nacht keine neuen Eindrücke mehr aufs Gehirn ein, werden die vielen Informationen in den Neokortex transferiert, dort sortiert und zum Beispiel ins Langzeitgedächtnis abgelegt oder gelöscht. Das Gehirn macht also reinen Tisch und bereitet sich auf Neues vor. Das muss sein: Wer 24 Stunden am Stück nicht schläft, ist kognitiv etwa so eingeschränkt, als hätte er einen Alkoholpegel von 0,85 Promille. Doch nicht allein für das Gehirn, auch für andere Prozesse ist der Schlaf wichtig. Das Immun- und das Hormonsystem sind zum Beispiel ziemlich nachtaktiv und schütten im Schlaf viele Stoffe aus. Und viele Körperfunktionen brauchen schlicht eine Erholungsphase. Der Motor muss abkühlen.

Schlaflosigkeit ist Folter – und sogar tödlich

Schlaf ist also fraglos wichtig für unser Wohlbefinden. Das zeigen auch Versuche mit Schlaflosigkeit. Der Brite Tony Wright stellte 2007 den Weltrekord im Schlafentzug auf – er blieb über elf Tage lang wach, genau 266 Stunden. Bei diesem sportlichen Experiment zeigte sich die ganze Palette von Folgen, die Schlafentzug haben kann: Wright wurde unausstehlich, hatte Halluzinationen, hielt sich für jemanden anderen, litt an Muskelschmerzen und konnte nicht mehr richtig denken. Das Gehirn blieb eben unaufgeräumt, der Körper konnte wichtige Prozesse nicht durchführen. In seinem schockierenden Bericht «Archipel Gulag» beschreibt der russische Autor Alexander Solschenizyn, wie die Sowjets Schlafentzug zur Folter von Häftlingen einsetzten – eine Praxis, auf die übrigens auch die US-Amerikaner im berüchtigten Gefängnis von Guantánamo setzten. Ja, Schlaflosigkeit macht kaputt. Sie kann gar tödlich sein: Versuchsratten starben nach siebentägigem Schlafentzug.

Eine riesige Palette von Störungen

Ich bin froh, bin ich keine Versuchsratte. Ich kann etwas gegen die Schlaflosigkeit unternehmen und bin ihr nicht ausgeliefert. Zum Beispiel kann ich Fachleute konsultieren. Die Klinik Hirslanden in Zürich führt seit über zehn Jahren ein Zentrum für Schlafmedizin. Dessen Broschüre macht klar, dass es «das» Schlafproblem nicht gibt. Es würden «über 90 verschiedene Störungen des Schlafs beschrieben», heisst es dort. «Darunter sind 42 Diagnosen mit Schlaflosigkeit oder übermässiger Schläfrigkeit zu finden, 22 Diagnosen betreffen Schlafprobleme mit unliebsamen Begleiterscheinungen des Schlafs wie Schlafwandeln, Schnarchen, Zähneknirschen, Sprechen im Schlaf, Bettnässen, Beinkrämpfe, Albträume usw.» Die sehr gute Nachricht: Für praktisch jede Störung gibt es heute wirksame Therapien.

Dr. Daniel Brunner, Leiter des Zentrums für Schlafmedizin der Klinik Hirslanden in Zürich: «Bei der Erholung, die höchst individuell ist, wollen wir alles in ein Schema pressen.»

Schlafmedizin ist eine eigene Disziplin

Geleitet wird das Zentrum für Schlafmedizin von Dr. Daniel Brunner. Er ist kein Mediziner, sondern Neurobiologe. Hierzulande habe die Schlafmedizin keinen leichten Stand, meint der Experte – in den USA, in Deutschland oder Frankreich sei man schon weiter. «Schlaf betrifft viele Aspekte verschiedener Disziplinen, von der Neurologie über die Psychologie bis zur Pneumologie, und die Fachärzte kennen sich meistens nur in ihrem Gebiet aus», sagt Daniel Brunner. Betroffene würden zuweilen von Spezialist zu Spezialist weitergereicht, doch jeder dieser Fachleute betrachte die Betroffenen nur aus seiner Sicht. «Dabei ist Schlafmedizin eine eigene Disziplin! Wer ein Problem mit dem Schlaf hat, für den ist ein Zentrum wie unseres die richtige Anlaufstelle.» In den vergangenen 25 Jahren hat die Disziplin einen Sprung gemacht, und nur Spezialisten für den Schlaf als Ganzes sind da noch ajour.

50plus: In Ihrer Broschüre erwähnen Sie, dass es sehr viele Störungen des Schlafs gibt. Kann man diese Störungen Hauptgruppen zuordnen?
Dr. Daniel Brunner: Grob gesagt gibt es vier Gruppen. Erstens die Schlaflosigkeit in der Nacht: Der Schlaf wird nicht als erholsam empfunden. Zweitens die Schläfrigkeit am Tag: Betroffene können sich nicht konzentrieren, nicken vielleicht immer wieder ein. Drittens die sogenannte Parasomnie – da geht es um Probleme mit einem schlafbezogenen Phänomen: Zähneknirschen, Schlafwandeln, Schnarchen. Dieser Bereich nimmt an Bedeutung zu.

Warum?

Die Menschen werden immer älter, und es kommt vermehrt zu neurodegenerativen Erkrankungen. Diese können zum Beispiel dazu führen, dass ein Traum physisch ausgelebt wird: Betroffene schlagen um sich, schreien und so weiter. Normalerweise sind wir in den Traumphasen ja gelähmt. Ein weiterer Grund für die Zunahme von Störungen ist der Schlafmangel. Unsere Gesellschaft schläft immer weniger, in den letzten hundert Jahren hat die durchschnittliche Schlafdauer um eine Stunde abgenommen. Das fördert Parasomnien.

Sie sprachen von vier Hauptgruppen …

Die vierte betrifft chronobiologische Störungen. Betroffene haben einen 24-Stunden-Rhythmus, der sich mit den Grundmechanismen unserer Gesellschaft nicht verträgt.

Jemand kommt zu Ihnen, weil er ein Schlafproblem hat. Was tun Sie?

Wir gehen immer vom Patienten aus. Zwei Menschen können das gleiche Krankheitsbild haben, doch der eine klagt, er könne nachts nicht schlafen, der andere findet, er werde nicht richtig wach am Tag. Die subjektive Wahrnehmung ist für uns immer die Ausgangslage.

Und dann schicken Sie die Betroffenen ins Schlaflabor?

Grundsätzlich wird der Schlaf nur bei Problemen im Bereich der Parasomnie ausgezeichnet, etwa bei der Schlafapnoe. Bei dieser Störung setzt die Atmung kurzzeitig aus. Bei der Abklärung der verbreiteten Schlaflosigkeit zahlt die Kasse hingegen keine Schlafregistrierung. Und für die Diagnose ist eine solche auch gar nicht nötig. Wir führen mit Betroffenen eine verhaltenstherapeutische Beratung durch, meistens reichen dafür zwei bis drei Termine.

Obwohl das Gespräch mit Dr. Daniel Brunner am frühen Morgen stattfindet, ist er hellwach – und engagiert. Er kommt in Fahrt: Schlafstörungen hätten, so sagt er, viel mit unserer Kultur zu tun. Vor allem aber habe die Wahrnehmung von Schlafstörungen oft einen kulturellen Hintergrund.

Wie meinen Sie das?

Viele Menschen verfolgen ein Ideal, von dem man sie abbringen muss. Sie haben die Vorstellung, man müsse acht Stunden lang durchschlafen; das kann aber nur ein Teil der Menschen. Dass wir in der Nacht aufwachen, ist ganz normal. Auch die moderne Forschung zeigt: Eigentlich ist der Nachtschlaf zweigeteilt. Wir schlafen ein paar Stunden, sind dann wach – und schlafen danach noch einmal ein paar Stunden lang. Zu früheren Zeiten war das kein Problem, da gingen die Menschen mit den Hühnern ins Bett, die Zeit, die zum Schlafen zur Verfügung stand, war viel länger. Heute wollen wir den Schlaf in eine kürzere Zeit hineinquetschen. Viele Menschen schaffen das aber nicht.

Aber es ist doch unangenehm, wenn ich in der Nacht wach liege!

Warum soll nächtliche Wachheit eine Krankheit sein? Viele betrachten die Zeit zwischen den beiden Schlafblöcken als besonders wertvoll. Man darf sich einfach nicht darüber nerven, dass man wach ist, und sollte dann auch nicht gleich ein Medikament einwerfen.

Aber die Gesellschaft fordert nun einmal, dass wir in der Nacht schlafen.

Ja, unser Verhalten hat sich in den letzten 50 Jahren fundamental geändert – und das wirkt sich sehr negativ auf den Schlaf aus. Wir leben heute Nonstop-Tage, man erwartet, dass wir jede Sekunde hellwach sind. Normal wäre aber, dass wir auch tagsüber Phasen der Inaktivität haben, die eine  Regeneration ermöglichen. Unsere Grosseltern erlaubten sich noch solche Ruhephasen.

Das Mittagsschläfchen ...

Es muss kein Schläfchen sein, einfach eine Ruhephase. Sehen Sie: Der Körper hat nun einmal Bedürfnisse. Wenn wir auf die Toilette müssen, warten wir auch nicht fünf Stunden, bis wir diesem Bedürfnis nachgeben. Aber bei der Erholung, die höchst individuell ist, wollen wir alles in ein Schema pressen. Es ist erstaunlich, welche Qualen Menschen durchmachen, weil ihnen verboten ist, eine Rast am Tag einzulegen. Oft beeinträchtigt Übermüdung den Nachtschlaf, weil man mental nicht mehr zur Ruhe kommt. Man kennt das ja von Kleinkindern: Wenn sie am Mittag nicht schlafen, sind sie am Abend überdreht und geraten in eine Hyperaktivität. Das ist bei Erwachsenen nicht anders. Viele merken nicht, dass sie im Verlauf des Tages Ruhephasen bräuchten, die sehr heilsam wären für die Nachtruhe.

Nun, wir sind eingebunden in ein System …

Sie schreiben diesen Beitrag für Menschen über 50. Die haben doch eine gewisse Freiheit im Leben und könnten ihre Bedürfnisse nach Ruhe und Erholung wahrnehmen! Oft kämpfen sie aber aus falschen Idealen gegen ihren Körper an. Schlaf ist einfach sehr, sehr individuell. Es gibt Kurz- und Langschläfer, Morgen- und Abendmenschen. Es gibt Leute, die haben einen tageszeitabhängigen Wachtrieb – die können nur in der Nacht schlafen. Andere haben einen stimulationsgetriebenen Wachtrieb, wenn nichts läuft, werden sie müde und wollen schlafen. Hunde leben ja auch so: Sie schlafen, wenn es nichts zu tun gibt. Für uns alle wäre es besser, wir würden uns nicht gegen unsere ureigenen Bedürfnisse wehren, sondern ihnen entsprechen. Der Feind des Schlafs sind die gesellschaftlichen Normen!

Hoppla, das sind nun aber sehr klare Worte. Was hält der Schlafexperte dann von all den Hausmittelchen, die den Schlaf fördern sollen? Was bringen die neuesten Schlaf-Apps? Wie wichtig ist die Infrastruktur, das richtige Bett und so weiter? Wenig überraschend lächelt Daniel Brunner nur. Naja, das sei ja alles gut und recht und könne natürlich zu einem guten Schlaf beitragen … Aber entscheidend bleibe, dass wir mit Mythen rund um den Schlaf aufräumten – etwa jenem, dass wir in der Nacht acht Stunden durchschlafen müssten –, und dass wir den individuellen Bedürfnissen mehr Platz einräumten. «Das Gute aber ist», schliesst Daniel Brunner, «dass sich Veränderungen sehr schnell auswirken. Das ist anders als bei vielen anderen gesundheitlichen Problemen. Wenn sich jemand entscheidet: Jetzt beginne ich, mich auf gesunde Art zu erholen – dann wirkt sich das bereits am selben Tag aus.»

Jetzt aber los mit der Pause!

Erich Kästner schrieb einmal: «Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.» In diesem Fall scheint das Bonmot besonders passend zu sein: Will man wirklich besser schlafen, muss man das Problem anpacken. Und zwar an der Wurzel, beim Schlafverhalten. Was Daniel Brunner sagt, ist einleuchtend. Wir wissen eigentlich alle, dass unsere gesellschaftlichen Normen in vielerlei Hinsicht ungesund sind. Wissen allein reicht aber nicht – wir müssen diese Normen aktiv durchbrechen: dem Päuschen nach dem Mittagessen Raum geben. Den Nachtschlaf nicht in immer weniger Zeit hinquetschen und der Tatsache Rechnung tragen, dass wir auch in der Nacht Wachzeiten haben – die wir gar nutzen können für den einen oder anderen feinsinnigen Gedanken. Vor allem aber müssen wir akzeptieren, dass Schlaf sich nicht in ein Korsett pressen lässt. Ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer hat Schlafprobleme? So schlecht richtet die Natur sich normalerweise nicht ein. Wir müssen schon einiges falsch machen, dass es so weit kommt. Machen wir es besser. Ich lege mich jetzt gleich mal kurz hin.

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