Sex im Alter ist in unserer Gesellschaft ungefähr genauso tabuisiert wie Inkontinenz – niemand spricht darüber. Zeit, den Elefanten im Raum zu benennen, zu thematisieren und vor allen Dingen zu enttabuisieren. Weil Sex uns alle angeht, dürfen Sie sich auf eine kleine Serie freuen, in der wir offen über die «schönste Nebensache der Welt» schreiben werden.
VON DÖRTE WELTI
Hand auf den Bauch: Konnten Sie sich als junger Mensch vorstellen, dass Ihre Eltern oder sogar Grosseltern sexuell aktiv sind? Heute sind wir so alt wie die Generation, von der wir uns beileibe kein intimes Bild machen wollten. Und sind – hoffentlich alle – in irgendeiner Weise sexuell aktiv. Aber obwohl sich die Gesellschaft 40, 50 oder sogar 60 Jahre weiterentwickelt und von jensten moralischen Zwängen befreit hat, ist immer noch Körperlichkeit zwischen Menschen, die nicht mehr dem Jugendwahn oder den gängigen optischen Normen in puncto Verführbarkeit entsprechen, eine unaussprechliche Angelegenheit. Wir wollen an dieser Stelle nicht darüber diskutieren, wer wie viel und wenn ja warum keinen Sex hat, sondern bei der Grundsatzdiskussion anfangen, die es tatsächlich gibt: Alter, Sex und Krankheiten. Wir haben uns dazu mit Prof. Dr. med. Claudia Steurer-Stey getroffen, Fachärztin für Pneumologie und Innere Medizin. Sie hat die Fachwelt aufhorchen lassen, weil sie einen Ratgeber zum Thema Sexualität und COPD (Chronische Obstruktive Lungenerkrankung) erstellt hat, so etwas hat vor ihr noch keine Medizinerin und kein Mediziner gemacht. Wir wollten die progressive Ärztin unbedingt kennenlernen und haben mit ihr ein sehr launiges, befreiendes Gespräch nach dem Motto «Was Sie schon immer über Sex wissen wollten» geführt.
Dr. Steurer-Stey, eine ganz grundsätzliche Frage vorweg: Gibt es einen medizinischen Grund, warum man im Alter keinen Sex haben sollte? Ist man irgendwann zu alt für Sex?
Der Mensch hört doch im Alter oder mit einer Krankheit nicht auf, ein sexuelles Wesen zu sein. Ich betone gerne in dem Zusammenhang, dass, wenn wir von Sexualität sprechen, wir alle sofort das Bett im Kopf haben und diesen Akt. Das Spektrum muss man aber viel breiter stecken. Was ältere und auch kranke Menschen ohne jegliche Gefahr tun können, ist Nähe geben, Intimitäten austauschen, Zärtlichkeiten geben und natürlich Kommunikation, liebe, berührende Worte. Da gibt es keine Kontraindikation aus medizinischer Sicht. Der sexuelle Akt kann schon, je nachdem, wie intensiv man ihn betreibt, Limiten aufwerfen. Nach einem frischen Herzinfarkt zum Beispiel sollte man die körperliche Anstrengung ein bisschen vorsichtiger gestalten und das betrifft dann natürlich auch Sex. Kuscheln und schmusen sind eine andere Belastung für den Körper als ein sexueller Akt mit Penetration.
Also keine Altersbeschränkung nach oben für Sex. Was muss denn in der Gesellschaft passieren, dass das Thema aus der Dunkelkammer kommt? Mehr Visualisierung? Es wird ja allerorten mit sehr viel nackter Haut und sexualisierten Botschaften geworben, nur nicht mit Models Ü50 oder älter …
Wenn es darum geht, ältere Menschen anzusprechen oder aufzuklären, da gibt es wenig Schönes. Wir haben für unsere spezielle Aufklärung für COPD-Patienten eine Bildsprache entwickelt, die aber allgemeingültig ist. Wir wollen damit älteren und auch kranken älteren Menschen zeigen, wie man sich näherkommen kann, wie man die Kommunikation starten kann, wenn Hemmungen vorhanden sind, wie man Barrieren und Ängste abbauen kann.
Wo kann man denn im eigenen Leben anfangen, wenn alles irgendwie belastet ist, eingeschlafen ist, wenn keine Rede mehr von Sex oder schon nur körperliche Nähe ist?
Dann fängt man am besten bei sich selbst an. Wann habe ich mich selbst zum letzten Mal berührt zum Beispiel, und damit ist nicht unbedingt Masturbation gemeint. Sich selber spüren, sich über die Haut streichen und sich im Spiegel ansehen, sich als ganzen körperlichen Menschen wahrnehmen und seinen Körper, auch wenn er nicht mehr dem gängigen Schönheitsideal entspricht, zu mögen, das ist der Anfang, um die eigenen Hemmungen abzubauen. Auch da braucht es einen schönen und ansprechenden Weg der Aufklärung. Dass es nicht verwerflich ist, sich zu berühren. Und wenn man sich selbst berühren kann, kann man auch den Partner oder die Partnerin berühren, sich berühren lassen. In unseren Illustrationen haben wir all das versucht, abzubilden.
Manche Menschen mögen vielleicht nicht über das Thema reden, sie haben es nie gelernt, schämen sich vielleicht oder trauen sich ganz einfach nicht. Mit wem kann ich denn über das Thema Sex reden, wenn ich Fragen habe – mit meinem Arzt oder sollte ich zu einem Sexualwissenschaftler gehen?
Wir haben im Vorwege unserer Kampagne/Aufklärung zum Thema Sexualität und COPD eine Umfrage gemacht bei Ärzten. Wir wollten wissen, ob nur wir uns das einbilden, oder ob es wirklich ein Bedürfnis ist, ob Sex nicht einfach zur Lebensqualität dazu gehört. Wir haben die Ärzte gefragt, was sie denken, was die Barrieren seien bei Menschen 60+, die dazu eventuell noch eine Krankheit haben, die eben nicht sexy ist, bei der man hustet oder was auch immer. Und die Ärzte haben tatsächlich gefunden, das sei eben so eine Generation, die da eigentlich nicht drüber sprechen will. Dann haben wir die gleiche Frage den Patienten gestellt und ganz andere Antworten bekommen. Man habe überhaupt gar kein Problem mit dem Alter, sondern lasst uns über Sex sprechen, es herrscht aber das Gefühl vor, die oder der Gegenüber würde sich nicht wohlfühlen. Das hat uns die Augen geöffnet. Wir fanden auch heraus, dass die Menschen einen vertrauenswürdigen Rahmen brauchen, um ihre Intimität anzusprechen und sie wollen Zeit haben. Und die ist das Manko bei Ärzten. Ärzte wiederum haben gemeint, sie fühlen sich nicht so kompetent bei dem Thema, sie hätten keine Spezialausbildung. Ich bin der Meinung, man muss kein Sexologe sein. Wenn man seine Patienten lange genug kennt, kann man das durchaus von sich aus ansprechen. Es sollte normal sein, dass man die Frage stellt und bei dem «wie geht es Ihnen» auch nachfragt, wie es denn zum Thema Körperlichkeit und Nähe steht. Gerade wenn man eine therapeutische Beziehung zum Patienten hat. Ich habe mir bei meinen Patienten, die ich länger begleite, angewöhnt, dass ich frage: Wir kennen uns doch jetzt schon so lange, wir haben vieles angesprochen, über Ihre körperlichen Aktivitäten geredet, über die medikamentöse Therapie – ein Thema das wir noch nicht besprochen haben: Was hat diese Krankheit oder was hat das Alter für Auswirkungen auf Ihr Intimleben? Möchten Sie darüber sprechen? Und ich betone da immer, dass ich das ganze Spektrum meine: Kuscheln Sie noch, küssen Sie, tanzen Sie, lachen Sie, haben Sie Spass und haben Sie Sex? Und ich staune immer, auf welche offenen Türen ich da stosse. Natürlich gibt es ein paar Prozent, die sagen, sie haben damit abgeschlossen, sie leiden aber auch nicht darunter.
Aber die, die darunter leiden – sind das eher Männer oder mehr Frauen, denen die körperliche Nähe und Intimität fehlt?
Man kann nicht sagen, es ist schwieriger oder bedeutender für Männer oder Frauen. Ich glaube, Frauen haben ein bisschen mehr Probleme mit ihrem Körperbild und ihren Rollen. Sie finden sich nicht mehr so sexy und attraktiv für ihren Partner. Männer haben da eher weniger Probleme. Frauen sehen ihren Körper, sehen Schwachstellen, Zellulitis, fragen sich, ob sie noch einen Bikini tragen können. Männer tun das eher nicht.
Dieser Artikel ist in der Januar 2024 Ausgabe unseres Magazins erschienen. Im Teil 2 in der März 2024 Ausgabe sprechen wir genauer mit Dr. Steurer-Stey über Sex und Krankheiten und geben Tipps, wie man trotz Einschränkungen im Alltag Sexualität und Intimität erfüllend erleben kann.