Oh morbide Zeiten! Man sagt, dass zu viel Isolation und Selbstreflektion Menschen in den Suizid treiben können. Niemand weiss, wie viele gerade jetzt im verordneten oder selbst gewählten Lockdown ihrem Leben ein Ende setzen (und erst viel viel später gefunden werden aufgrund von social distancing…). Auf jeden Fall ist Selbstmord ein dankbares literarisches Thema.

VON DÖRTE WELTI

Sigrid Nunez hat mit ihrem Roman (oder ist es ein Memoir? man weiss es nicht…) «Der Freund» (aus dem englischen The Friend, erschienen 2018 bei Riverhead Books) 2018 den National Book Award, der alljährlich in den USA von der National Book Foundation vergeben wird, verliehen  bekommen. Der Plot: Eine zurückgezogen lebende Schriftstellerin verliert ihren besten Freund, weil der sich umbringt, und sie erbt seinen Hund. Die Kritiker haben sich überschlagen, man feierte die damals 67-jährige Autorin als Overnight-Sensation und das Buch gilt als eines der herausragenden der zeitgenössischen Amerikanischen Literatur.

 

Jetzt finde ich es persönlich schon mal frech, eine Schriftstellerin, die seit über einem Vierteljahrhundert schreibt und publiziert, als Overnight-Sensation zu betiteln. Ich kannte Sigrid Nunez nicht, bevor mir dieses Buch ans Herz gelegt wurde, aber sie hat auch vor «Der Freund» schon so bemerkenswertes geschrieben, dass sie verschiedentlich ausgezeichnet wurde. Und dann geht man an so ein hoch gelobtes Memoir – ich bin je länger je sicherer, dass es eins ist – aufgrund solcher Vorschusslorbeeren mit eventuell zu hochtrabenden Erwartungen heran. Man beginnt zu lesen, liest sich ein, liest sich warm, versteht hier und da nicht ganz, aber es ist ja prämierte Literatur, also keine Blösse geben und durchhalten. Das Buch behandelt ein intimes Thema, eines, dass wir alle kennen, jeder von uns hat schon mehr oder weniger enge Freunde, vielleicht sogar den besten Freund oder die beste Freundin durch Tod verloren, ob durch Krankheit, Unfall oder Selbstmord. Letzteres ist ungleich schwerer, aber ich behaupte mal die Leere, die entsteht ist die Gleiche. Sigrid Nunez schreibt sich also die Leere, die sie sonst als einsiedlerisch veranlagte Schreiberin sowieso hat, die jetzt aber brutal zu Tage tritt, weil wohl der Einzige, der sie verstand, einfach so abgehauen ist, von der Seele. Sie tut das in einer Reflexion über gemeinsame Zeiten, der Tote war auch streckenweise ein/ihr Dozent, ein/ihr Vorbild, ein Schreiber, eine Vaterfigur, ein Bruder. Das Loslassen durchs Schreiben tut gut, man möchte sich an gemeinsame Zeiten erinnern. Nunez aber macht noch etwas anderes: Sie zitiert. Immer, ständig, alles und jede Begebenheit wird unterlegt mit einer Quelle, einer Anekdote, einem Bezug. Das ist für mich hier und da eingestreut ein schönes Stilmittel, aber auf so ziemlich jeder Seite? Das überfordert mich. Ich komme mir seitenweise vor wie ein Idiot, weil ich von den erwähnten Schriftstellern nur einen Bruchteil kenne und um wirklich wissend beim Lesen abnicken zu können, eigentlich pausenlos googeln oder Literaturlexika bemühen müsste. Manchmal war ich es dermassen leid, dass ich aufgeben wollte, diese Zurschaustellung hochfliegender Kultur nicht länger ertragen wollte. Nur mein Vorhaben, jedes Epos, das ich hier rezensiere, auch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen zu haben, hat mich das Buch immer wieder aufschlagen lassen. Ich frage mich, wie lang die Geschichte geworden wäre, wenn Nunez einfach nur die Story erzählt hätte? Die Geschichte über die ohnmächtige Wut, die Träume, die Albträume, den Schmerz, wenn man nicht versteht, warum man endgültig und ohne Abschied im Stich gelassen wurde? Denn das kommt raus zwischen den Abschweifungen. Die Protagonistin ist in ihren Grundfesten erschüttert, ich behaupte mal, sie hat den Mann geliebt und en passant in der Story eine andere schöne Geschichte skizziert, warum man nicht mit dem besten Freund eine Liebesbeziehung haben kann/sollte/will.

Fazit: Doch, lesen Sie das Buch, leider kam es aufgrund der Corona-Krise bei mir nicht im Original an, ich lese vor allem englische Autoren lieber in ihrer Sprache, das Päckchen hängt noch irgendwo denke ich, aber die Deutsche Übersetzung von Anette Grube klingt authentisch. Vielleicht sind Sie ja belesener als ich, kennen die unter anderem erwähnten J.R. Ackerley, Sainte-Beuve, Milan Kundera und Garrison Keillor aus dem Effeff und geniessen die Story, die in sich eine Schöne davon ist, wie ein Hund zum Freund und Therapeuten wird, mehr verrate ich nicht.

Und wenn Sie noch eine andere Version einer Verarbeitung eines Selbstmordes eines Freundes lesen wollen würden, empfiehlte ich Ihnen «Das Jahr ohne Pit» (Aravaipa Verlag). Maja Gerber-Hess lässt ihre 18-jährige Protagonistin Monika in einem Tagebuch den Selbstmord eines Klassenkameraden verarbeiten. Sehr realistisch, sehr geradeaus, eigentlich für junge Menschen geschrieben, aber sind wir das nicht alle im Geiste?

 

Sigrid Nunez

Der Freund

Aufbau Verlag ISBN 978-3-351-03486-3

 

Maja Gerber-Hess

Das Jahr ohne Pit

Aravaipa ISBN 978-3-03864-012-7