Zwischen Traum und Wirklichkeit

Was fällt Ihnen zu Patti Smith ein? Mir in erster Linie Musik, Bob Dylan, Performance, die verrückten 1970er-Jahre. Ich habe mich aber auch seit diesen meinen Teenietagen nicht mehr wirklich mit der Ausnahmekünstlerin beschäftigt. Das ändert jetzt.

VON DÖRTE WELTI

Der Grund: Ich hab ihr erstes Buch gelesen. Also mein erstes, ihr vorletztes. Ich hatte mir «ein Buch von Patti Smith» von meinen Kids zu Weihnachten gewünscht, für sie ist die Ikone etwa so bekannt wie für mich irgendein rappender Z Jay XY oder ein It Girl No123 auf Instagram. Das Buch, das ich Heiligabend auspacken durfte, heisst Im Jahr des Affen.

Es traf auf mich in einer Situation, in der ich mit vergangenen Lieben haderte. Mit unmöglichen, unlebbaren, aus diversen Gründen un-möglichen Lebensentwürfen. Ich war und bin mir schon bewusst, dass es der/dem ein oder anderen ähnlich ergeht, aber wie sehr die Story von Patti Smith die meine berührte, konnte ich nicht ahnen.

Patti Smith nimmt uns mit durch das Jahr 2016, besagtes Jahr des Affen gemäss dem chinesischen Kalender. Sie geht auf einen Roadtrip durch Amerika, dem Leser wird nicht immer klar, was geträumte Destinationen und was real angesteuerte Ziele sind. Ist aber auch nicht so wichtig, das Gefühl alleine zählt. Zwei zentrale Figuren im Leben von Patti Smith sterben in diesem Jahr des Affen. Die eine ist einer ihrer engsten Freunde, der Musiker Sandy Pearlman, der andere ihre – wie ich behaupte – grosse Liebe Sam Shepard. Pearlman liegt im Koma, als sie ihn zum letzten Mal sieht, Sam Shepard, der an ALS erkrankt ist, hilft sie, sein letztes Buch fertig zu stellen. Es geht ihr während des Jahres so unendlich viel durch den Kopf, Dinge aus vergangenen Jahren, Szenen ihres Lebens, auch Filme, Musik, Bücher – sie referiert jeweils darauf, nicht alles kann man kennen, von vielem habe ich noch nie gehört. Patti ist kurz vor ihrem 70. Geburtstag in diesem Jahr, hat aber keinerlei Mühe mit dem Alter, das liest man zwischen den Zeilen. Wenn eine ihr Leben to the fullest lebt, dann sicher sie.

Es ist schwierig, einen Kurzumriss des Inhalts zu geben, man muss es lesen, sich einlassen, in den Groove verfallen, mitschwimmen auf dieser Welle aus Erkenntnis, Liebe und tiefem In-sich-gehens. Sie ist froh, jede Sekunde kompromisslos genossen und gelebt zu haben, das kann ich nachfühlen. Und auch, wie es ist, diesen einen ganz besonderen Menschen in seinem Leben sterben zu sehen. Eine grosse Liebe zu leben und sie dann zu verlieren. Wobei: Die Liebe an sich, die bleibt. Und trotz der unschönen Begleiterscheinung des Jahres 2016, in dem eine Person zum Präsidenten des Landes gewählt wird, die alle bis dato erschaffenen Zerreissproben in den Schatten stellt, versöhnt sich Patti Smith mit dem Schicksal auf eine ihr eigene lyrische bildgewaltige Art.

Ich hab das Buch viel zu schnell durchgelesen, schade. Aber ich werde ihre anderen ebenfalls lesen. Im Jahr des Affen habe ich auf Deutsch gelesen, es ist sicher fabelhaft übersetzt von der ausgezeichneten Hamburgerin Brigitte Jakobeit. Aber alle anderen – Just Kids, Woolgathering (beide Harper Collins), M Train (Bloomsbury), Devotion (Yale University Press) etc. – werde ich mir in der Originalsprache organisieren/wünschen.