Ein Gedanke zum Begriff Freundschaft in Zeiten digitaler Verwahrlosung.

VON ALEXANDER VON SCHÖNBURG*

Es gibt eine Passage aus «Alice im Wunderland», die das Dilemma unserer Zeit, der Postmoderne, ziemlich präzise auf den Punkt bringt. In Lewis Carrolls Roman begegnet Alice dem Eiermann Humpty Dumpty. Die beiden geraten in einen Streit. Es geht um die Bedeutung eines der schönsten Worte der englischen Sprache: glory. Es bedeutet Ehre, und auch Pracht. Humpty Dumpty sitzt auf seiner Mauer, schaut verächtlich auf Alice herab und besteht darauf, die Bedeutung dieses schönen Wortes selber bestimmen zu können: «Wenn ich ein Wort benutze, heisst es genau das, was ich will.» Alice antwortet perplex: «Aber wie kann denn ein Wort unterschiedliche Dinge bedeuten?» Darauf der eitle Ei-Mann schroff: «Die Frage ist doch, wer hier der Meister ist, so einfach ist das!»

Ist die Bedeutung von Worten wirklich jedem Einzelnen überlassen? Freundschaft zum Beispiel. Oder Treue. Die moderne Philosophie bejaht das. Zu Grunde liegt dem das seit den fünfziger Jahren vorherrschende postmoderne, post-konstruktivistische Weltbild. Für Post-Konstruktivisten
gibt es das, was wir umgangssprachlich «Tatsachen» nennen, im streng philosophischen Sinne nicht. Sie sind in ihren Augen entweder sozial gewachsen oder erst durch willkürliche, menschliche Kategorisierung entstanden. Für Post-Konstruktivisten sind die Namen, die wir den Dingen
geben, willkürlich. Ein Baum wird erst dadurch ein «Baum», ein Berg erst dadurch ein «Berg», dass wir ihn als solchen bezeichnen. Für eine Amöbe ist ein Sandkorn vielleicht ein Berg und ein Baum schlicht «die Welt»? Demnach ist unsere Sicht zutiefst menschlich-subjektiv. Es genügt allerdings simpelste Logik, um das postmoderne Weltbild in Bedrängnis zu bringen. Wenn es keine absoluten Tatsachen gibt, dann wäre das ja, wenn es denn stimmen würde, zumindest schon einmal eine absolute Tatsache.

Ich bin der Überzeugung, dass der Begriff Freundschaft der allerbeste Beweis dafür ist, dass sich die Postmoderne auf dem Holzweg befindet. Die Philosophie des hochnäsigen Humpty Dumpty führt geradewegs zu Nihilismus. Und zu völliger Verwirrung – am Ende gilt dann nämlich gar nichts mehr, Liebe, Treue, Freundschaft verlieren jede Bedeutung –, sie leugnet auch das, was man als ewige Wahrheiten bezeichnen darf. Manche Wahrheiten findet man schlicht vor. Sie sind keine menschliche Konstruktion. Es ist falsch, seinen besten Freund zu verraten. Das gilt ewig, immer und überall. Das, was Freundschaft ausmacht – zuallererst Liebe und Loyalität –, war für Menschen im alten Mesopotamien nicht anders als für Menschen im Basel der Hochrenaissance oder im Schanghai des 21. Jahrhunderts.

Daran kann und wird sich auch künftig nichts ändern. Das, was Freundschaft bedeutet, wird sogar der digitalen Verwahrlosung standhalten. Wer seine Weltsicht nach Facebook und Snapchat ausrichtet, der mag vielleicht der Illusion erliegen, dass all die Leute, die ihm oder ihr «folgen» oder als «Friends» abgespeichert sind, tatsächlich Freunde sind, tief im Innern wird er oder sie (oder es oder x?) sehr wohl ahnen, dass diese digitalen Bekanntschaften nichts mit Freundschaft zu tun haben. Die zunehmende Verlagerung sozialer Kontakte in die virtuelle Welt, darüber kann kein Zweifel mehr herrschen, wird schwerwiegende Folgen auf die nachwachsende Generation haben. Als ich ein kleiner Junge war, kam ich abends für gewöhnlich mit aufgeschürften Knien nach Hause, ich gehöre noch zu einer Generation, deren soziales Leben sich IRL abspielte, in real life, wie es im Internet-Speak heisst. Meine beiden Söhne, beides Teenager, verabreden sich fürs Spielen am liebsten online. Ihr Abenteuerspielplatz heisst «Fortnight», ein Computerspiel, bei dem man gemeinsam mit seinen «Freunden», mit denen man per Kopfhörer und Mikrophon verbunden ist, irgendwelche abstrusen Kampfmissionen erfüllt.

Einerseits ist so ein Spiel tatsächlich «wertvoller» als frühere Videogames, weil man eben nicht isoliert von der Aussenwelt daddelt, andererseits sehe ich in den Augen meiner Jungs den Unterschied, wenn sie sich der Anziehungskraft des Videospiels entzogen und sich dazu aufgerafft haben, sich mit echten Freunden, in der echten Welt zu verabreden.

Freundschaften machen glücklich. Aber nur IRL.

(*) Alexander von Schönburg ist deutscher Essayist und Bestsellerautor, sein jüngstes Buch ist im Piper-Verlag (München) erschienen und heisst «Die Kunst des lässigen Anstands» (368 Seiten, Hardcover, Preis: CHF 28,90. EAN 978-3-492-05595-6)