Ein Vorteil der Autos mit Elektroantrieb ist das Ausbleiben von Motorgeräuschen. Das macht sie sehr leise und angenehm. Aber es liegt auch eine Gefahr in dieser Stille, denn man überhört leicht ihr Herannahen. Nun sorgt ein obligatorisches künstliches Geräusch für Abhilfe, das in der Umsetzung viel Spielraum lässt, was viele Hersteller auch für ein markentypisches Klangbild nutzen.
Von Martin Schatzmann
Ja, mich faszinieren Motoren. Grosse Diesel in Lastwagen, kleine, verbrauchseffiziente Turbos, grossvolumige V8-Sportmotoren, Hybridmotoren – einfach alles, was nach interessanter Technik “riecht”. Aber mit der Lancierung des Nissan Leaf vor gut zehn Jahren, begann mich auch die Kraft der Stille zu begeistern. Denn mit dem Leaf, dem ersten Grossserien-Elektromobil, hielt 2010 nicht nur ein neues Antriebssystem Einzug, es begann sich auch eine damit verbundene, extraleise Geräuschwelt auszubreiten.
Dass aber Leise-sein auch neue Herausforderungen mit sich bringt, das hat die Entwickler seither unablässig beschäftigt. Die heute gesetzlich verlangten Geräuschgeneratoren, denen wir uns nachfolgend etwas vertiefter widmen, sind nur ein weiteres Glied in einer langen Kette diesbezüglicher Entwicklungen. In den Anfängen moderner E-Mobile sah man sich erst einmal damit konfrontiert, dass man als Insasse Geräusche zu hören begann, welche bisher vom gewohnten Grummeln und Vibrieren der Verbrennungsmotoren verdeckt worden sind. Gemeint sind etwa Fahrwerks- und Windgeräusche. Nissan hatte für den Leaf deshalb beispielweise speziell geformte Scheinwerfergehäuse entwickelt (Foto), die den Fahrtwind um die Aussenspiegel herumleiten, damit an den Spiegeln keine Verwirbelungen und so keine Windgeräusche entstehen.
Risikoreich leise
Über Jahre blieben Stromer wie der Leaf eine Randnotiz, einmal abgesehen vom Tesla-Hype. Heute aber, eine gute Dekade nach Nissans Pioniertat, ist Elektro hier angekommen. Der Anteil reiner Elektromobile in der Verkaufsstatistik 2021 von auto schweiz beträgt gut dreizehn Prozent und bereits mehr als jeder fünfte Schweizer Neuwagen war letztes Jahr ein “Stecker-Fahrzeug” (Elektro und Plug-in-Hybrid). Diese 53’500 Autos sind zwar – gemessen am Schweizer Fahrzeugbestand von rund 6,45 Mio. Autos – noch immer sehr bescheiden, gleichwohl begegnen wir den elektrischen Leisetretern nun tagtäglich.
Das Geräusch muss so laut sein, wie eine elektrische Zahnbürste oder ein Kühlschrank
Und die meisten von uns kennen das Problem, dass man leise Fahrzeuge bei langsamer Fahrt kaum hört. Wer ist noch nie wegen eines Elektrovelos erschrocken, das lautlos nah vorbeigefahren ist? Oder erschrak beim Aufblicken ob des Elektroautos oder des Trolleybuses, den man nicht herannahen gehört hatte? Vor allem sehbehinderte Menschen haben schon früh auf die neue Gefahr aufmerksam gemacht. Das hat zu den heute weltweit neu erlassenen Gesetzen geführt, welche das Risiko der Stille entschärfen sollen.
Die Lösung ist ein künstlich erzeugter Sound. Dieser trägt die umständlich klingende Bezeichnung “Fahrzeug-Warngeräusch-Generator”, mit der umso griffigeren Abkürzung “AVAS” (Acoustic Vehicle Alert System). Damit muss ausgerüstet sein, was einen elektrischen Antrieb besitzt: Elektro-, Vollhybrid-, Plug-in-Hybrid- und Brennstoffzellenfahrzeuge. Die Vorschrift zielt jedoch nur auf Fahrzeuge mit mindestens vier Rädern (Autos, Lieferwagen, Busse, Lastwagen), Elektro-Velos und -Roller, dürfen Passanten weiterhin “ungehindert” erschrecken.
So muss AVAS klingen
In Europa muss AVAS in neuen E-Autos seit Mitte 2021 eingebaut sein. Zwischen Stillstand und 20 km/h strahlen Lautsprecher das Warngeräusch aus, sowohl bei Vorwärts- wie Rückwärtsfahrt. Das Geräusch muss mindestens 56 dB(A) laut sein, also etwa so laut, wie eine elektrische Zahnbürste oder ein Kühlschrank. Oberhalb von 20 km/h sind die Abrollgeräusche der Reifen und andere mechanische Geräusche bereits so deutlich, dass Passanten auch ohne AVAS aufs Fahrzeug aufmerksam werden. Der Soundgenerator wird im besagten Tempobereich nur dann deaktiviert, wenn beim Hybrid der Benzinmotor im Einsatz steht.
Das künstliche Geräusch soll ähnlich einem Verbrennungsmotor klingen und soll zugleich Aufschluss darüber geben, wie sich das Fahrzeug gerade verhält. Damit ist simples Gepiepse ausgeschlossen, und auch Musik im traditionellen Sinn oder Melodien haben keinen Platz. Vielmehr soll das Geräusch durch Tonhöhe, Klangfarbe und Rauigkeit automatische Rückschlüsse ermöglichen: Wie schnell fährt das Auto? Ist es ein Kleinwagen, ein Sportwagen, ein Lastwagen? Beschleunigt oder bremst es gerade? Bewegt es sich langsam oder schnell?
Praktisch jeder Autohersteller löst die Aufgabe unterschiedlich, wobei man sich dafür zum Teil die Unterstützung von Komponisten und Musikproduzenten holte. Dass der reine Elektro-, der Hybrid- und der Plug-in-Hybrid-Antrieb technisch sehr verschieden sind, lassen einige Hersteller auch bei AVAS anklingen. Skoda beispielsweise lässt das E-Mobil Enyaq turbinenartig Sirren, während es beim Plug-in-Hybrid in Superb und Octavia grummelt, wie beim Verbrennungsmotor. Es gibt auf der Strasse also auch akustisch Neues zu entdecken, hinhören lohnt sich.
Doch inzwischen hat die Autoindustrie den künstlichen Fahrzeug-Klang bereits weiterentwickelt. Heute wird daran gearbeitet, dass auch die elektrischen Leisetreter markenspezifisch klingen. Das soll das Fahrerlebnis der Insassen beeinflussen, aber auch den Passanten helfen, dass sie, ohne hinzuschauen erkennen, welches Auto gerade anrollt. Auch hier gehen die Hersteller sehr unterschiedliche Wege und loten zugleich die Möglichkeiten von AVAS zusätzlich aus.
Klangbeispiele der Hersteller
Nissan-LEA
Skoda Octavia
Skoda_Enyaq
BMW_i4Concept