Der kleine Unterschied

Bei Wahlen und Abstimmungen stellen Beobachter immer wieder ein Stadt-Land-Gefälle fest, welches je länger je mehr den früher so gern zitierten Röstigraben ablöst. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, lebe seit dreissig Jahren in einer Kleinstadt und habe beruflich oft in grösseren Städten zu tun. Deshalb ernenne ich mich hiermit kurzerhand selbst zum Experten für Stadt-Land-Diskrepanzen und stosse ins gleiche Horn wie die Politanalysten: Ja, es gibt dieses Gefälle. Und nein, es manifestiert sich nicht in erster Linie auf dem Stimmzettel, sondern auf dem Teller.

Egal, wo auf der Welt Sie sich aufhalten, irgendwann meldet sich Ihr Hunger zu Wort und bewegt Sie dazu, ein Lokal aufzusuchen. Auf dem Land betreten Sie eine Beiz, schauen sich um und setzen sich an einen freien Tisch. In der Stadt werden Sie für derartigen Frevel mit Verachtung bestraft. Sie treten ein und warten, bis eine Bedienung auf Sie zukommt und Sie fragt, ob sie reserviert hätten. (Dies gilt übrigens auch für Restaurants, in denen das Personal den Gästen zahlenmässig weit überlegen ist.) Wenn Sie verneinen, lässt die Servicefachperson ihren Blick durch den leeren Raum schweifen, bevor sie Ihnen einen Tisch zuweist. Serviert wird am einen Ort so viel, dass sich der Tellerrand bloss erahnen lässt, andernorts kunstvoll Angerichtetes mit viel Weissraum.

Nachdem man sich an Speis und Trank gütlich getan hat, folgt der für mich signifikanteste Unterschied zwischen Stadt und Land: die Gretchenfrage par excellence. In der Dorfbeiz erkundigt sich das Fräulein (ja, es gibt Orte, an denen die Bedienung noch immer so genannt werden darf und will): «Isch es gnue gsi?», während sein städtisches Pendant, die Pendlerin zwischen Cuisine und Gastraum sozusagen, kaum vernehmlich fragt: «Isch es guet gsi?» Besonders drollig mitzuerleben finde ich es, wenn sich der Besitzer eines Chauffeurenteller-Magens in einen Gourmethäppchen-Tempel verirrt und nach Erhalt der Rechnung blass das blasierte: «Isch es guet gsi?», mit einem in breitem Dialekt gesprochenen: «Danke, vo do han ig gnue gha!», quittiert.

© 2017 by meinrad kofmel.

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