Fleischeslust

In der Kindheit begleitete ich meine Mutter oft zum Einkaufen in den Dorfladen nebenan. Auf engstem Raum fand man dort alles, was es zum täglichen Leben braucht. Ich liebte den Duft ofenfrischen Brotes oder das verführerische Odeur, dessen Ursprung ich in der Kaffeemühle verortete. Gerüche, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen liessen. Das Highlight jedoch stellte jeweils der Besuch vis-à-vis in der Metzgerei dar.

Während sich Mutter von der Gattin des Besitzers beraten liess und nach aktuellen Aktionen fragte, zog die Charcuterie-Ecke meinen Blick magnetisch an. Dort verharrte er bei den Wurstwaren, die verführerisch darauf lauerten, bis Mutter bezahlt hatte und die Metzgerin endlich die Frage aller Fragen stellte: «Magst du ein Scheibchen Lyoner oder ein Ringlein vom Wienerli?» Schüchtern nickte ich jeweils, streckte meinen kurzen Kinderarm weit nach oben, um mit meinen Wurstfingern die Köstlichkeit von der Fleischgabel zu angeln, und quittierte Mutters «Wie sagt man?» mit einem schüchternen «Danke vielmal». Auf dem Nachhauseweg tat ich mich dann am göttlichen Geschmack Wurst gewordener Fleischeslust gütlich.

Neulich kramte ein kleines Mädchen an der Fleischtheke im Supermarkt, das mit vorfreudig starrem Blick auf die Auslage am Rockzipfel seiner Mutter hing, dieses vergessen geglaubte Gefühl aus dem verstaubten Archiv meiner Erinnerungen hervor. Ich sehnte mit ihm die Frage der Verkäuferin nach dem Wurststückchen herbei. Doch sie blieb aus. Enttäuscht zottelte das Kind mit seiner Mutter von dannen. Ich liess mich dazu hinreissen, die Verkäuferin darauf anzusprechen. «Ich würde den Kindern ja noch so gern ein Stückchen Wurst anbieten», klagte sie, «aber wir haben strikte Weisung, dies zu unterlassen.» Sie sprach vom Lebensmittelgesetz, von Hygienebestimmungen, von möglichen Allergien.

Ich zuckte mit den Schultern und kaufte zwei Wienerli. An der Kasse schmuggelte ich sie unbemerkt in die Einkaufstasche der Mutter und hoffte insgeheim, das kleine Mädchen würde zu Hause beim Auspacken mit strahlenden Augen an ein kleines Wunder glauben.

© 2017 by meinrad kofmel.

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