Baut das Gehirn mit dem Alter ab? Oder ist dies bloss ein Vorurteil und kann man sich mit Trainieren geistig fit halten?

VON KURT GERBER

Ich greife in die Hosentasche, ziehe das Taschentuch heraus und gewahre einen Knoten darin. Unvermeidlich folgt nun das grosse Grübeln, woran mich diese Gedächtnishilfe denn erinnern sollte. Ich weiss es gar nicht mehr. Aber Halt! Als ich den Knoten knüpfte, sass ich doch mit dem Dings zusammen. Der erinnert sich bestimmt daran, aber wie heisst er nur?

Wie ist das bei Ihnen? Was löst das aus, wenn sich ein nicht identifizierter Dings dem ungelösten Knoten annehmen soll? Etwas beunruhigt werden Sie wohl sein, doch es besteht kein Grund, gleich das Schlimmste zu befürchten. Noch längst muss keine Erkrankung im Sinne von Demenz oder Alzheimer vorliegen. Dass sich die Denkvorgänge ab ungefähr dem 30. Altersjahr behäbiger abzuwickeln beginnen als vorher, entspricht sogar einer häufig gemachten Beobachtung. Seien Sie sich bewusst, dass auch viel jüngere Menschen gelegentlich dies und jenes vergessen.

Vergessen und erinnern

Verstehen wir unter «Vergessen» jenen Vorgang, wo ein Gedächtnisinhalt – im erwünschten Moment wenigstens – nicht abgerufen werden kann. Ob früher oder später der entschwundene Inhalt wieder greifbar wird, lässt sich im Augenblick nicht abschätzen. Es muss uns aber klar werden, dass das Gedächtnis nicht eine «Instanz» ist, die von allem abgenabelt im Raum steht. Es wird gespeist von Wahrnehmungen aller Art und von sehr unterschiedlicher Intensität. Das rote Auto dort beim Bahnhof haben Sie wohl kaum zur Kenntnis genommen. Hätten Sie aber den Zebrastreifen überqueren müssen, just als es anzufahren kam, so wäre ein kurzfristiges Begegnungs- und Abhängigkeitsverhältnis entstanden. Sie wären gezwungen gewesen, den Wagen aktiv zu registrieren. Wie lange er in Ihrem Gedächtnis haften geblieben wäre, bleibt trotzdem ungewiss. Viel tiefer verankern sich im Hirn die Elemente, zu denen emotional eine stärkere Bindung besteht.

Individuelle Vergesslichkeit

So erklärt sich auch die Individualität im Vergessen. Ein Fussballfan und ein Sportmuffel trinken zusammen ein Bier im Stammlokal. Am Fernsehen läuft ein Fussballmatch. Beide Männer sind damit den gleichen Informationen ausgesetzt. Der eine wird das Resultat des Spiels in Erinnerung behalten, der Muffel jedoch nimmt es vielleicht überhaupt nicht zur Kenntnis oder er vergisst es bald wieder. Möge dies unterstreichen, dass Inhalte des Gedächtnisses verknüpft sind mit einer urpersönlichen Erlebensform. Das lässt sich sogar an einem einzigen Mann erklären. Ein junger Mann trifft beim Kaffee zwei junge Damen. In die eine von ihnen verliebt er sich vom Fleck weg. Deren Namen wird er lange Zeit in Erinnerung behalten, selbst wenn er sie nie mehr sieht. Wie die andere heisst, hat er vielleicht morgen schon vergessen. Das Gedächtnis ist also durchaus mit einer gewissen Subjektivität aufgebaut.

Schach ein optimales Gedächtnistraining

Schach ein optimales Gedächtnistraining – wie auch anspruchsvolle Kreuzworträtsel lösen, Sachbücher lesen oder zum Beispiel einen Tanzkurs machen.

Konzentration und geistige Präsenz durch Gedächtnistraining

Was nun, wenn sich wichtige «Daten» verflüchtigen, die eigentlich abrufbar sein müssten? Hilfreich wäre zweifellos ein Gedächtnistraining. Die rund 400 Trainerinnen und Trainer des Schweizerischen Verbandes für Gedächtnistraining arbeiten zu einem guten Teil mit der Erkenntnis, dass die Nachhaltigkeit sehr stark von der Intensität der Informationsaufnahme abhängt. Sie richten ihre Kurse darauf aus, das Gedächtnis nicht als isoliertes Archiv zufällig vorhandener Informationen zu behandeln, sondern als eine Art Forum, dessen Lebendigkeit von einer ganzen Reihe begleitender Faktoren abhängt. So wird zum Beispiel die Konzentration und geistige Präsenz bei der Wahrnehmung genauso geübt wie die sprachliche Wiedergabe des Erlebten oder als Gedächtnisstrategie auch die Umsetzung begrifflicher Informationen in Bilder. Visuelle Eindrücke bleiben in der Regel besser haften als abstrakte Formulierungen. Natürlich ist auch die Visualisierung als Beihilfe zu verstehen, die nicht mit letzter Sicherheit vor allen Fehlleistungen schützt. Das zeigt klar das Beispiel jener Frau, die den Namen der Gemeinde Stühlingen im deutschen Wutachtal aus ihrem Gedächtnis als «Sitzlingen» hervorholte.

Techniken und Übungen können aber jederzeit auf Ihre ganz persönliche Art des Vergessens ausgerichtet werden. Viele davon sind in spielerischer Form aufgebaut und haben damit ausser dem erklärten Zweck einen gewissen Unterhaltungswert. Einige der gängigen Rätselarten eignen sich sogar sehr gut zur Stimulation aller Funktionen des Gehirns, die als Grundlage für ein gutes Gedächtnis in Frage kommen. In jedem Fall besteht das Ziel darin, dass Sie in Ihrem Umfeld jeden Augenblick Ihrer Zeit bewusster und konzentrierter aufnehmen.

Schubladisierung

Liegt keine Erkrankung vor, darf man im Gehirn eine Grundordnung voraussetzen. Das Gedächtnis arbeitet in einer Art von Schubladisierung, wo verwandte Inhalte verknüpft und abgesondert gespeichert sind. Neue Inhalte gliedern sich sofort den vergleichbaren, bereits vorhandenen an. Das kann sich schon im bewussten Erleben einer Tagessituation äussern, indem Sie dabei stark an eine Sache von früher erinnert werden. Oft weckt so ein artverwandtes Element gar Eindrücke wieder, die über geraume Zeit hinweg verschüttet waren. Der geistige Prozess des Suchens schöpft also nicht wirklich aus dem Vollen, sondern er hält sich unwillkürlich an die Logik in einer vorhandenen Struktur. Wenn einer dem Namen einer Ortschaft nachstudiert, der ihm entfallen ist, wird selbst im chaotischsten Kopf das Hirn nicht zum Beispiel auf einen Filmtitel als mögliche Lösung stossen.

Gezieltes Gedächtnistraining kann nicht als Eingeständnis eines Makels ausgelegt werden. Das Vergessen stellt sich nicht allein mit fortschreitendem Alter ein. Oft ist es durch zeitweilige Überbelastung bedingt und manchmal dadurch, dass die Gedanken vorrangig von anderen, als viel wichtiger eingestuften Inhalten in Anspruch genommen sind. Das passiert nicht nur Ihnen. Sogar den Topmanagern entschwindet zuweilen etwas, weil ganz andere Dinge im Mittelpunkt stehen. Für diese ist es völlig normal, sich durch ein Gedächtnistraining so gut wie möglich dagegen zu wappnen, denn sie fassen dies so selbstverständlich auf wie jeden sachbezogenen Kurs in der persönlichen Weiterbildung auf ihrem Berufsweg. Gemäss den Angaben von Annemarie Frick, ehemalige Präsidentin des Verbandes für Gedächtnistraining, liegen nur in einem Teil der Fälle erschwerte Bedingungen vor. Das ist dann der Fall, wenn sich im Hirn die Strukturen verändert haben wegen Missbrauchs von Medikamenten oder Drogen, sowie auch aufgrund von Verletzungen oder demenziellen Erscheinungen. Selbst in diesen Fällen kann die verbliebene Leistungsfähigkeit durch Training verbessert werden. Für Sie aber gilt es im Normalfall nicht, Derartiges zu befürchten. Wenn Sie aber den Eindruck haben, Ihr Gedächtnis sei beängstigend schlecht geworden und die Einbusse führe zu einer erheblichen Beeinträchtigung Ihrer Lebensführung, empfiehlt sich eine Absprache mit dem Hausarzt. Dieser vermittelt Ihnen die Abklärung durch Spezialisten auf dem Gebiet. Das ist auch für die Trainerinnen oder Trainer wichtig, die gegebenenfalls im Anschluss daran mit Ihnen arbeiten, denn möglicherweise müssen sie bei ihrer Arbeit ungeahnten Besonderheiten Rechnung tragen.

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