Herr Meier, wann ist Ihnen Niklaus von Flüe das erste Mal begegnet?
Pirmin Meier: Vor gut 60 Jahren, 1956, begegnete mir Niklaus von Flüe auf einem Kirchenfenster in der Pfarrkirche meiner Heimatgemeinde. Zu meiner Erstkommunion besuchte ich mit meinen Eltern den Wallfahrtsort Flüeli bei Sachseln, Obwalden. Später am Gymnasium St. Niklaus in Sarnen kam ich über unseren Geschichtslehrer wieder in «Berührung» mit dem Heiligen. Über die Jahre wurde er Bestandteil meiner Forschungen, zunächst in der humanistischen und alchemistischen Richtung, auch wegen Paracelsus, dem legendären Arzt und Propheten aus derselben Zeit, über den ich ebenfalls ein Buch veröffentlichte, in dem Niklaus von Flüe ein Kapitel gewidmet ist. Später näherte ich mich Klaus von Flüe aus historischer Sicht und verbrachte Jahre im Grundlagenstudium, auch in Archiven.
Was fasziniert Sie an ihm?
Pirmin Meier: Die Stille an ihm, das scheint mir das Wichtigste bei ihm. Hierbei besteht die Gefahr, ihn entweder zu unterschätzen oder auch zu überschätzen. Ebenfalls von eindrucksvoller Faszination ist seine «Friedenstechnik». Es ist grossartig, wie er das Friedensdenken aus einer einheimischen Friedensordnung des 15. Jahrhunderts realisiert hat. Alle, die ihn in seiner Einsiedelei in Flüeli bei Ranft besuchten, und das waren nicht wenige, gingen mit der Überzeugung weg, er stehe auf ihrer Seite. Er war ein Grenzgänger von grosser Integrität. Und er war ein Empath, der sich nicht nur hervorragend in das Gegenüber hineinversetzen konnte, sondern genau wusste, wie die Grenzen des anderen jeweils zu respektieren sind. Dazu fällt mir immer der zeitlose Spruch ein: «Good fences make good neighbours.»
Ihr Doktorvater Peter von Matt, einer der Schirmherren des Niklaus von Flüe Gedenkjahres 2017 in Ranft, ist ebenfalls ein bekennender Fan seiner Friedensethik: «Bruder Klaus hat eine Schlüsselfunktion für die politische Versöhnungskultur der Schweiz. Das heisst für den Willen es innenpolitisch nie auf den letzten, selbstzerstörerischen Bruch ankommen zu lassen.»
Goldrichtig. Herr von Matt ist ein Meister, die Dinge auf den Punkt zu bringen! Ich bin völlig überzeugt, dass Klaus von Flües Ansatz von 1481: «Es niemals bis auf das Äusserste ankommen zu lassen», in Gegenwart und Zukunft angewendet werden kann. Bruder Klaus ist ein Katalysator des Friedens – bis heute. Er war ein Aussteiger, der zum Einsiedler wurde; seine Ratschläge waren keine konkreten politischen Ratschläge. Eher Handeln durch nicht Handeln, das geht schon in Richtung Konfuzianische Mystik.
Was macht dieser sogenannte «Ausstieg», den Weg eines Mystikers, aus?
Der vollendende Weg der Mystik ist ein Weg in die Stille. In die Abgeschiedenheit. Ein Weg der Selbstverkleinerung. Es hat auch mit einer Art spirituellen, religiösen Begabung zu tun. Bei einigen mit weitreichenden kreativen Folgen für den Betroffenen, mit Wirkung auch auf die Aussenwelt. Klaus wurde jedoch kein Lehrer der Mystik, blieb reiner Praktiker, «Lebemeister», wie Meister Eckhart gesagt hätte.
Was meinen Sie konkret, mit den weitreichenden Folgen?
Die bedeutendste Folge ist das Weggenommenwerden von den Menschen, notabene das Gegenteil von Davonlaufen. Dazu gehören Absenzen und sogenannte ekstatische Bewusstseinszustände, die oft näher am Totalabsturz sind als an der Erleuchtung.
Sie meinen, es gehören auch Krisen dazu?
In der Tat. Alle ernstzunehmende Mystiker/innen, wohl auch Mutter Teresa, haben eine, wenn nicht gar mehrere, erschütternde Krisen, die für das Umfeld eine grosse Zumutung darstellen. So war es auch bei Klaus von Flüe. Die Herausforderungen, vor denen er stand, waren unerhört. Der soziale Aufstieg war ihm aus gesellschaftlicher Sicht hervorragend gelungen. Dazu gehörte auch die strategische Heirat, solche Ehebündnisse waren in der damaligen Zeit üblich, mit seiner Frau Dorothea Wyss, die einer angesehenen Obwaldner Familie entstammte, ihr Vater war Ratsherr. Die beiden Familien standen in einem engen Vertrauensverhältnis zueinander, man kannte sich, um sich zu mögen. Dorothea wurde schon zu Lebzeiten gewürdigt und war eine bedeutende Frau. Ich würde sogar behaupten, sie war die angesehenste Frau der damaligen Schweiz.
Welches ist das grösste Missverständnis über ihn?
Dass er der bedeutendste Politiker der damaligen Schweiz gewesen sei, die Schweiz gerettet habe und wenn möglich noch die Neutralität erfunden. Der Unfriede zwischen Stadt- und Landkantonen war zwar nach den Burgunderkriegen gravierend. Aber falls Klaus damals die Schweiz gerettet haben sollte, so rettete er sie, weil er sie als Einziger nicht retten wollte. Über das Loslassen, wenn schon, wurde er zum Friedensstifter.
Inwieweit gilt die Brunnenvision des Niklaus von Flüe als ein Porträt der Schweiz im Kleinen? Enthält diese Vision nicht eine handfeste Kritik über den Missbrauch des Geldes? Es ist überliefert, dass er unter der Wende zur Geldwirtschaft litt, welche sich zu seinen Lebzeiten von der Alpwirtschaft in die Viehwirtschaft, der Zucht und dem Handel mit Tieren und der Käseherstellung, vollzogen hat? Der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt äusserte sich in diesem Zusammenhang einst über ihn: «Die seelische Wirklichkeit eines Volkes in Widerspiegelung der inneren Realität eines Menschen, den man eher als jeden anderen Mitbürger für einen Heiligen hält.»
Eine wunderbare Aussage! Diese tiefe Skepsis passt zu Friedrich Dürrematt. Es war diese grossartige Schlichtheit von Niklaus von Flüe, in der Dürrenmatt etwas Heiliges an ihm nicht ausschloss. Die Brunnenvision ist meines Erachtens bis zum heutigen Tag die bedeutendste Metapher über die Schweiz, als eingezäuntes scheinbares Paradies, dessen Bewohner aber ihre wertvollsten eigenen Schätze nicht beachten. In fortwährender Arbeit verweigern sie sich den Schätzen des Brunnens, was Bruder Klaus sehr betrübte.
Der Begründer der analytischen Psychologie und Psychiater Carl Gustav Jung war ebenfalls äusserst angetan und sprach über ihn als den Prototypen eines modernen Mystikers, jenseits der Spaltung in verschiedene Religionsbekenntnisse und Konfessionen: «Niklaus von Flüe ist der einzige hervorragende schweizerische Mystiker von Gottes Gnaden, der unorthodoxe Visionen hatte und unbeirrten Auges in die Tiefen jener göttlichen Seele blicken durfte.» Gibt es heutzutage überhaupt noch zeitgenössische Mystiker/innen, an die wir uns wenden können, mit den Fragen der Gegenwart und Zukunft?
Nun, er war nicht der einzige bedeutende Schweizer Mystiker, es gab noch andere, zumal Frauen wie die Nonnen von Töss oder im 19. Jahrhundert Marguerite Bays. Der Rest stimmt. Die grösste Schwierigkeit in der heutigen Zeit, den Weg eines Mystikers zu gehen, ist die «Jetzt- Überfüllung». Wir haben von allem zu viel, zu viele Eindrücke, zu viele Kontakte, zu viel Konsum. Am Ende wird die an Kursen angebotene Mystik selbst zu Konsum. Das funktioniert nicht.
Offenbar hat er auch viele Jahre lang gefastet. Mystik und Fasten stehen seit jeher in einer geheimnisvollen Verbindung zueinander und sind naturwissenschaftlich nur sehr schwer erklärbar?
Wer glaubt, Klaus hätte normal gegessen, der versteht ihn nicht. Der Unterschied zwischen Heiligen und uns «normalen» Menschen liegt auch im Essverhalten. Ohne die Verwandlung im Magen wird nichts verwandelt, lehrte Paracelsus. Klaus von Flüe hat damit ernst gemacht, obwohl die verbreitete Kunde von seinem Nichtessen mutmasslich als Bestandteil von religiöser Propaganda gesehen werden muss. Für diese komplexe Geschichte habe ich in «Ich Bruder Klaus von Flüe» an die 200 Seiten aufgewandt.
Wie würde Niklaus von Flüe heute leben? Würde er als Vermittler für den Frieden die sozialen Medien nutzen, um seine Friedensbotschaften und mystischen Erfahrungen zu teilen?
Ein weiteres Missverständnis über einen Bruder Klaus von heute bestünde in der Vorstellung, er würde per Twitter Friedensbotschaften in die Welt senden. Dies alles und noch viel mehr, muss ja vorher losgelassen werden, bis auch nur der Vorhof der «Abgeschiedenheit», Zitat nach Meister Eckhart, erreicht ist. Diese heute fast undenkbare Leere, auch Leere an Informationen, ist eine Bedingung des Friedens im Geist von Bruder Klaus.
2017 ist das 600-jährige Gedenkjahr von Niklaus von Flüe und seiner Frau Dorothea. Von Flüeli Ranft ausgehend, in vielen Städten und an diversen Veranstaltungsorten, werden sich weitere Schweizer und internationale Intellektuelle, Künstler, Musiker und gläubige Menschen mit den beiden befassen und eine kollektive Neuverankerung im Bewusstsein auslösen. Wo werden Sie anzutreffen sein? Aktuelle Projekte?
Gerne hoffe ich, trotz Verspätung in der Produktion, dass meine für die Jugend bestimmte Studie: «Bruder Klaus für die Schule» noch im Jubiläumsjahr erscheinen wird. Für mich als ehemaligen Lehrer gäbe es die Möglichkeit, da und dort wieder mal in einem Schulzimmer zu wirken. In diesem Sinne bin ich kein Mystiker, der alles losgelassen hat. Eher fühle ich mit den Schülerinnen und Schülern mit, die nie etwas von Bruder Klaus oder überhaupt kaum etwas von anderen faszinierenden Heiligengestalten des Abendlandes gehört haben. Man kann über sie vieles erfahren, vergleichen mit Asien und Südamerika – so den Rest der Welt besser verstehen lernen.
Haben Sie den Bericht von unserer Journalistin Marcelle de Michiel schon gelesen. Hier geht’s zum Bericht.
Das Buch von Pirmin Meier über Bruder Klaus: