Filme können sich ganz unterschiedlich auf die eigenen Angelegenheiten ihrer Macher einlassen. Altmeister Roman Polanski versucht es mit «J’accuse» symbolisch, der junge Schweizer David Vogel mit «Shalom Allah» ausgesprochen persönlich.
FILMTIPPS VON MICHAEL SENNHAUSER
Im September 2009 wurde Regisseur Roman Polanski am Zürcher Flughafen verhaftet. Er hätte am noch jungen «Zurich Film Festival» den Ehrenpreis für sein Lebenswerk entgegennehmen sollen. Stattdessen holte ihn ein us-amerikanischer Haftbefehl wegen Missbrauchs einer Minderjährigen aus dem Jahr 1977 wieder ein.
Die Schweiz hat Polanski unter Hausarrest gestellt, aber nicht ausgeliefert. Ebenso wenig wie seine dritte Heimat Frankreich und seine erste, Polen, nach zwei Prozessen im Jahr 2015 und 2016. Dem seinerzeitigen Prozess in den USA hatte sich Polanski durch Flucht entzogen. In den letzten Jahren sind weitere Anklagen von Frauen erhoben worden. Wenn nun also der gleiche Polanski einen Film zu einem alten und berühmten Justizskandal inszeniert, mit dem sprechenden Titel «J’accuse» («Ich klage an»), dann lädt der mittlerweile 86-jährige Regisseur ganz klar zu Vergleichen ein.
Objektiv betrachtet ist «J’accuse» ein starker, stellenweise brillanter Film. Eine minutiöse Rekonstruktion der Dreyfus-Affäre, in der 1895 in Frankreich der jüdische Offizier Alfred Dreyfus zu Unrecht für den Verrat militärischer Geheimnisse degradiert und deportiert worden war. Die Geschichte entwickelte sich zu einem europäischen Skandal, als der Schriftsteller Emile Zola den Staat und die Behörden via Zeitung unter dem Titel «J’accuse» bezichtigte, ein antisemitisches Fehlurteil nicht nur gebilligt, sondern schliesslich auch noch vertuscht zu haben. Aufgerollt wird die Geschichte in Polanskis Film durch den aufrechten Geheimdienstoffizier Marie-Georges Picquart, ausgezeichnet verkörpert durch den eher über komische Rollen bekannten Jean Dujardin («The Artist»).
Das mit immensem Aufwand inszenierte Historiendrama geht durchaus unter die Haut. Polanskis Ehefrau Emmanuelle Seigner spielt die verheiratete Geliebte Picquarts, der seinerseits zwar wohl antisemitische Züge aufweist, aber den Sieg der Gerechtigkeit über alles stellt. Und Polanski gönnt sich selbst einen Kürzestauftritt als Konzertbesucher.
Mit einem Millionenbudget, seiner unbestrittenen inszenatorischen Meisterschaft und dem Jurypreis des Filmfestivals von Venedig hat Roman Polanski also sich und seinem Gerechtigkeitsempfinden ein Monument errichtet, hinter dem er persönlich bequem verschwindet.
«Shalom Allah»
Sozusagen das Gegenteil davon macht der Schweizer Dokumentarfilmer David Vogel mit seinem Debut. Mit «Shalom Allah» stellte sich der Filmemacher zunächst einmal der Frage, was Menschen in der Schweiz dazu bewegen mag, zum Islam zu konvertieren – in einer Zeit, in der Muslime auch hierzulande vor allem auf Misstrauen stossen. Vogel dokumentiert und kommentiert seine Begegnungen mit Aïcha, Johan und der Familie Lo Mantos, hinterfragt seine eigenen Vorurteile und hat den Mut, auch zu benennen, wenn ihm etwas an der Haltung eines seiner Protagonisten auf die Nerven geht.
Zu einer echten Begegnung und einem packenden, überzeugenden Dokumentarfilm aber wird «Shalom Allah» erst dadurch, dass David Vogel sich seine eigene jüdische Jugend in Erinnerung ruft, seine allmähliche Distanzierung von der Religion und sein Hadern damit.
«Shalom Allah» geht unter die Haut, weil David Vogel seine und unsere Zweifel nicht ausräumt, sondern angeht. Weil wir mit ihm dabei sind, wenn die Menschen, deren Weg er nachzeichnet, selber zweifeln. Oder auch ihre möglichen Zweifel mit Vehemenz verdrängen und verarbeiten. Das ist ein ganz kleiner, ganz grosser Film geworden, einer, der hier bei uns und unter uns Fragen stellt und Zweifel zulässt: Wie kann sich eine junge Frau freudig den rigiden Regeln eines streng patriarchalen Islam unterwerfen? Wie viel Freiheit muss ich aufgeben, um meinem Leben einen Sinn zu geben? Und wo berühren sich die religiösen Erfahrungen des einst für sein Judentum brennenden jungen David mit denen dieser Menschen, die sich in ihrem neuen Glauben gefunden haben?
David Vogel versteckt sich nicht hinter der ohnehin stets fiktiven Objektivität des Dokumentarfilmers. Er ist mitten drin, inszeniert sich und seine Fragen mit einer Ernsthaftigkeit, die auch dann funktioniert, wenn etwa der Fund seiner religiösen Paraphernalien auf dem Estrich mit etwas zu viel symbolischem Staub auf den Schachteln bedeckt erscheint. «Shalom Allah» ist das Gegenteil von «J’accuse». Der Film klagt eben nicht an, sondern fragt nach. Und David Vogel, der Filmemacher, versteckt sich nicht hinter seinen Figuren und ihren Geschichten, sondern er ist eine von ihnen, in aller Offenheit.
«J’accuse» ist ab 13. Februar im Kino.
«Shalom Allah» kommt am 19. März ins Kino.