Das Leben besteht aus Geräuschen. Manche sind wohlklingender als andere, alle jedoch liefern Informationen. Informationen, die fehlen, wenn das Gehör nachlässt. Doch was steckt dahinter und was lässt sich dagegen tun?

VON SUSANNE STETTLER

Es beginnt schon frühmorgens, wenn der Wecker klingelt, und zieht sich dann durch den ganzen Tag. Zwitschern die Vögel? Streiten die Nachbarn wieder? Kommt der Bus, mit dem ich zur Arbeit oder zum Einkaufen fahre? Pfeift der Dampfkochtopf bereits oder ist es noch nicht soweit? Warum kann die Nachrichtensprecherin nicht lauter reden? Und seit wann schnarcht mein Mann nicht mehr so heftig?

 

Fragen über Fragen. Die meisten davon beantworten unsere Ohren. Sie liefern jede Minute unseres Lebens wichtige Informationen. Manchmal sogar (über)lebenswichtige. Töne und Geräusche gelangen in Form von Schallwellen über die Luft in unsere Ohrmuschel und von dort über den Gehörgang zum Trommelfell, welches die Schwingungen aufnimmt und auf die Gehörknöchelchen – Hammer, Amboss und Steigbügel – überträgt. Diese wirken als Verstärker und leiten die Schwingungen in die flüssigkeitsgefüllten Räume der Cochlea (Gehörschnecke), wo sich die Haarzellen «verbiegen» und so einen elektrischen Impuls auslösen, der über den Hörnerv ins Gehirn gelangt. Dieses baut das Signal dann sozusagen in den von uns wahrgenommenen Ton um. Wie weitreichend die Folgen einer Hörverminderung sind, wird den meisten Menschen erst bewusst, wenn ihr eigenes Gehör schwächelt. Ob sich jemand dies allerdings eingesteht, ist eine andere Sache. «Es dauert in der Regel fünf bis sieben Jahre, bis Betroffene Hilfe suchen», sagt Irene Verdegaal, Geschäftsleiterin von pro audito schweiz, der Selbsthilfeorganisation von und für Schwerhörige und Hörbehinderte. «Bei den über 65-jährigen, hörgeschädigten Personen in der Schweiz lassen nur 54 Prozent ihren Hörverlust versorgen. Dabei verdeutlichen Studien, dass das Tragen von Hörhilfen das Sprachverstehen und die Lebensqualität verbessern.»

Der Lauf der Dinge, oder doch nicht?
Die Abnahme des Hörvermögens gehört zum natürlichen Alterungsprozess. Bei den über 60-Jährigen ist ein Drittel davon betroffen, bei den über 70-Jährigen sind es schon zwei Drittel und bei den über 80-Jährigen sogar mehr als 80 Prozent. Irene Verdegaal: «Die Sinneszellen fürs Hören – auch Haarzellen genannt – befinden sich im Innenohr in der Gehörschnecke. Im Alter sterben immer mehr dieser Sinneszellen ab.» Fachleute unterscheiden zwei Arten von Hörverminderung. «Mit peripherem Hörverlust ist alles gemeint, was mit der Reizempfindung zu tun hat, also dem Hörorgan », erklärt Verdegaal. «Der zentrale Hörverlust dagegen beschreibt alles, was die Verarbeitung des Reizes im Gehirn betrifft.» Darüber hinaus gibt es die Einteilung nach Schallleitungs- und Schallempfindungsstörung: Bei der ersten sind das Aussen- und das Mittelohr betroffen, bei der zweiten die Haarzellen im Innenohr. Und es existiert noch die Differenzierung nach Ursache: Altersschwerhörigkeit oder andere, normalerweise jüngere Menschen betreffende Gründe wie Lärmexposition, Infektionskrankheiten, chronische Ohrenentzündungen, Komplikationen bei der Geburt oder genetische Veranlagung.

Manche merken es gar nicht
Ältere Personen bekunden meist Mühe beim Hören von höheren Tönen. Zusätzlich stellen sich oft Probleme beim Verstehen von Gesprochenem ein, vor allem in schwierigen Hörsituationen mit Hintergrundlärm. Weil es sich bei der altersbedingten Hörminderung um einen schleichenden Prozess handelt, realisieren viele Betroffene den Vorgang gar nicht, sondern werden erst durch ihr Umfeld darauf aufmerksam gemacht.

Schwerhörigkeit im Alter stellt ein grosses Gesundheitsproblem dar, weil das Richtig-hören-und-verstehen-Wollen nicht nur sehr anstrengend und ermüdend ist, sondern auch frustrierend. Depression und Gereiztheit sind nicht selten die Folgen davon. Ebenso wie Gedächtnisstörungen, Lernschwierigkeiten, erhöhtes Demenz-risiko sowie die Verschlechterung des körperlichen und des allgemeinen Zustands. Zudem führen Hörschwierigkeiten zu Missverständnissen, zunehmender sozialer Isolation und Vereinsamung. Dazu kommt der Sicherheitsaspekt: Wer schlecht(er) hört, ist beispielsweise im Strassenverkehr gefährdeter.

Nicht zu lange zögern

Irene Verdegaal, Geschäftsleiterin von pro audito schweiz.

Niemand freut sich über Alterserscheinungen. Dennoch schiesst ein Eigengoal, wer zu lange zögert, einen Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten aufzusuchen. Man kann nämlich tatsächlich verlernen, zu hören! Bei Schwerhörigen büsst das Gehirn mit der Zeit die Fähigkeit ein, Höreindrücke richtig zu verarbeiten. «Fehlt in gewissen Regionen die Stimulation, dann wird abgebaut oder umfunktioniert », erklärt Irene Verdegaal. «Glücklicherweise scheint sich das Gehirn nach einer gewissen Zeit und bis zu einem gewissen Grad wieder erholen zu können, wenn täglich Hörhilfen getragen werden.» Einen ersten Hinweis, ob es solche braucht, gibt ab August der Online-Hörtest von pro audito schweiz (www.pro-audito.ch/hoertest). Dieser überprüft in wenigen Minuten das Hörvermögen und gibt anschliessend eine Empfehlung ab. Zeigt er eine Hörminderung an, sollte ein HNO-Facharzt der Ursache dafür auf den Grund gehen und eine differenzierte Diagnose stellen. Die Geschäftsleiterin: «Wir empfehlen, vor dem Kauf eines Hörgeräts einen Spezialisten aufzusuchen.» Die AHV respektive die IV beteiligt sich an den Kosten für Hörgeräte (siehe Box unten) – und nicht die Krankenkasse. Verlangt wird hierfür zwingend die ärztliche Expertise eines IV-anerkannten HNO-Arztes oder einer HNO-Ärztin. Über das genaue Vorgehen gibt die Broschüre «Der Weg zum richtigen Hörgerät» Auskunft, die online heruntergeladen oder (telefonisch) bestellt werden kann.
Die Preise der Hörgeräte variieren je nach Ansprüchen und Ausführung sehr. Hersteller gibt es einige, darunter Sonova, Oticon, Widex, Unitron, Hansaton, Re-Sound, Bernafon, Phonak und Signia. Welche Hörhilfen sind die besten? «Als unabhängige Non-Profit-Organisation geben wir keine Empfehlungen zu Hörgeräte-Herstellern ab», so Irene Verdegaal. «Wir raten aber, vor dem Kauf eine Zweitofferte eines anderen Anbieters einzuholen und Preise sowie Dienstleistungen zu vergleichen. » Unabhängig davon, für welches Hörgerät sich jemand entscheidet – der- oder diejenige wird schon bald wieder ganz Ohr sein.

Hilfe von pro audito

Der Verein pro audito schweiz bietet auf seiner Website www.pro-audito.ch viele Informationen rund um Hörprobleme und Hörgeräte. Besonders hilfreich:

  • Beratung rund um das Thema Hören und Hörgeräte: beratung@pro-audito.ch oder Tel. 0800 400 333 (Mo–Fr 9–12 Uhr)
  • Diverse Informationen, Broschüren und Formulare (z. B. Kostenbeiträge der AHV/IV, Hilfsmittel, «Der Weg zum richtigen Hörgerät»)
  • Kurse (z. B. Hörtraining mit Lippenlesen)
  • Online-Hörtest