Reisen als Wallfahrt zu sich selbst

Ich bin ein grosser Fan des Schweizer Philosophen und Schriftstellers Alain de Botton. Der Schöngeist lebt in London und verblüfft mich immer wieder mit seinen Betrachtungen. Mal nimmt er sich die moderne Architektur vor und beschreibt, wie die Häuser, in denen wir leben, uns prägen. Er zeigt, wie Proust unser Leben verändern kann oder weshalb mir ein Statusverlust dermassen Angst macht.

VON Kurt Aeschbacher

Nun hat er mir in seinem Blog eine Art Reisetherapie verschrieben. Reisen seien eine Pilgerfahrt zu einem besseren Selbst, behauptet er. Vor einer Reise sollte man sich klar machen, wo man gerade steht in seinem Leben und danach den richtigen Wallfahrtsort bestimmen. Braucht man die Leere, dann wäre die Wüste zweifellos der richtige Ort, den Kopf zu entrümpeln. Happert es in der Partnerschaft, würde wohl einer dieser vielgerühmten Wellnesstempel Klarheit schaffen.

Ich nahm mir noch am gleichen Abend seinen Ratschlag zu Herzen und beschloss – kurzfristig – eine Wallfahrt zu mir selbst. Obwohl sich auf meinem Pult die Papierberge türmen, die unerledigten Mails schlaflose Nächte bereiten und die ungelösten Probleme wie Herbstblätter durch den Tag wirbeln. Sprich: es gab tausend Gründe, die nächste Zeit weiterhin das beflissene Arbeitstier zu mimen und brav zu tun, was man von mir erwartet. Aber nein.

Der Rat des Philosophen war mir wichtiger und ich wollte einfach mal meine Selbstkasteiung über den Haufen werfen. Mit Vollgas startete ich deshalb eine Probefahrt aus dem durchgetakteten Alltag hinaus in die Kühnheit, planlos einige Tage in New York zu verbringen. Einen Tag später sass ich im Flieger, leistete mir die Comfort – Klasse, benachrichtigte vom Flughafen aus (per SMS, so wie ich dies sonst bei allen anderen hasse, die auf diesem Weg allerlei Unangenehmes zu kommunizieren pflegen) all die Termin-Ungeheuer mit dem lapidaren Spruch : ich bin dann mal weg. Und ich blieb – was ich mich bisher ein Leben lang nicht getraut habe – eine ganze Woche verschollen. Ohne schlechtes Gewissen. So schlenderte ich als Ausreisser über die High Line, diesem früheren Bahntrassee im Meat Packing District und schaute stundenlang den flanierenden Menschen zu. Ich stand am Sonntag im West Village vor der Magnolia Bäckerei für ein leckeres Cupcake Schlange und fühlte mich wie in Sex and the City. Ich traf Karl Lagerfeld im angesagten EN, einer japanischen Brasserie, und tat, was ich sonst nie wage: ich begann einfach drauflos zu plaudern und unterhielt mich mit ihm vorzüglich.  Ein Gespräch mit einem Galeristen, bei dem ich spontan ein Bild eines chinesischen Künstlers erstand, führte dazu, dass ich schliesslich im Landhaus seiner Familie eine unvergessliche Autostunde später einen Abend inmitten der bekanntesten Kunstwerke verbrachte.

Sie glauben nicht, wie stolz ich war, mit dieser spontanen Reise meine ganz persönliche Pilgerfahrt zu mir selbst gewagt zu haben. Vernachlässigte Bedürfnisse auszutoben, mit der eigenen Spontaneität zu experimentieren, zeigten mir, dass ich Vertrauen haben kann ins Leben. Man muss nicht immer alles krampfhaft erfüllen wollen, was andere von einem erwarten. Die Mailberge und Problemhaufen waren nach meiner Rückkehr nicht kleiner, aber sie belasteten weniger. Und das war es wohl, was mir diese Wallfahrt beibringen wollte. Thank you, Mr. de Botton, ein lupenreiner Therapierfolg.

Weitere Kolumnen von mir findet ihr hier.

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