Erna senkte den Hochglanzprospekt der «Schiff-ahoi-Reisen». Sie schaute zu ihrem Mann. Der aber blätterte im Sportteil seiner Tageszeitung, sodass Erna sich genötigt sah, mit einem langen Seufzer auf sich aufmerksam zu machen.

Walter schaute nicht vom Blatt auf – knurrte aber: «Ist es wieder die Galle?» Erna: «Nein – ist es nicht. Es ist diese Schiffsreise, die mich seufzen lässt.»

Walter blieb mit dem Blick hinter dem Blatt: «Aha. Ich glaube nicht, dass du auf ein Schiff willst, wenn dir schon im 36er-Bus übel wird!» Nun wurde die Tonart von Erna schärfer: «Ich meine immer noch selber entscheiden zu können, was ich will. Und was nicht. Ich will auf dieses Schiff!»

Das wirkte. Alarmiert liess Walter die Zeitung sinken: «Was ist denn das wieder für ein neuer Furz?! Ein Schiff? Wir gehen doch nach Adelboden. Wir gehen immer nach Adelboden …» «Eben!» – sagte nun Erna spitz und gedehnt. «Eben – ich will wieder mal etwas Neues sehen. 37 Jahre Vogellysi sind genug!»

Entsetzt schaute Walter seiner Frau ins Gesicht. So kannte er sie nicht. Nie aufmüpfig. Nie laut. Manchmal ein bisschen sarkastisch – Aber mit einem Schiff? … Also, das war noch nie da.

«Aber ich habe doch die Wohnung schon gemietet … habe eine Vorauszahlung geleistet und …» – Walter tönte jetzt so kläglich wie ein Messhüpchen. «Bestell ab!», bellte Erna. Klar und bestimmt. «Wir sind noch nicht zu alt, um auch einmal auf neuen Geleisen zu fahren.» «Also, wenn du Zugferien möchtest …», versuchte es Walter hoffnungsvoll.

«Das Geleise ist symbolisch gemeint, du Dummi!» Erna tätschelte Walters Hand: «Ich möchte endlich wieder mal Neuland sehen … zu andern Ufern aufbrechen … und so eine Schiffsreise ist da genau das Richtige für uns!»

Aus Kostengründen fuhren sie mit dem Zug nach Genua. Und schon nach Mailand war Ernas Tasche weg. Alles drin: Pässe, Geld, Ferien-Vouchers. Der italienische Zugführer alarmierte die Polizei. Walter und Erna verbrachten zwei mühsame Tage auf dem Posten der Polizia del Porto – die Nächte in einem Dreisternhotel, das die Zimmer stundenweise vermietete. Am dritten Morgen bekamen sie zwei neue Pässe und einen Brief vom Schweizer Konsul mit 300 Euro und guten Wünschen. Überdies waren da auch zwei  Rückfahrttickets in die Schweiz: Genova–Chiasso, 2. Klasse.

Nach der Grenze riefen die beiden sofort ihren Sohn an. Dieser tobte: «Ja seid ihr total verrückt geworden … in eurem Alter alleine auf eine Schiffsreise! Könnt ihr nicht wie andere Alte in ein Kurbad?» Nur ihr jüngster Enkel Oliver war begeistert. Er hatte das Gespräch mitgehört und rief: «Wowwww, Opi – das habt ihr mega gemacht!»

«Und was nun?», unterbrach der Sohn spitz. Walter hängte einfach auf. Er schaute Erna entschlossen an: «Ja, was stellt sich der eigentlich vor? Jetzt telefoniere ich meiner Bank. Und lasse uns Geld hierher überweisen. Morgen fahren wir zurück nach Genua … und suchen uns dort ein Schiff … also wenn diese Rotznase glaubt, sie könne uns zum alten Eisen werfen, dann …»

In seinen Augen funkelte dieser Draufgänger, den Erna vor fünfzig Jahren kennen gelernt hatte. Sie schickten dann Oliver bunte Ansichtskarten von Korfu, Tanger, Barcelona und Palermo.

Ein Jahr später waren sie wieder in Adelboden – aber die Reise hatte ihr ganzes Leben verändert. Wenn im Fernsehen eine dieser Städte gezeigt wird, die sie mit ihrem Kreuzschiff angedampfert haben, blüht stets ein leises Lächeln auf beider Lippen. Erna tätschelt dann die Hand ihres Mannes: «Weisst du noch dieses Morgenlicht auf der Akropolis? Es war wunderschön, Walter … Danke.»

Und er schaut sie glücklich an: «Unserm Herrn Sohn haben wirs aber vollkrass gezeigt, was!»