Die jungen Mädchen. Ich habe selber zwei Töchter. Die Vorstellung, dass sie ins völlig Unbekannte abreisen, ist heute nicht mehr so angsteinflössend wie direkt nach dem Zweiten Weltkrieg oder sogar noch davor. Heute gibt es jene Kommunikationsmittel, um mit den Kindern in Kontakt zu bleiben – wenn sie es wollen. Damals mussten die Daheimgebliebenen auf Briefe hoffen.

VON DÖRTE WELTI

In den Schweizer Medien wurde sogar von einem «Exodus», einem «Massenphänomen» geschrieben, berichtet Simone Müller, Autorin des Buches «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England». Die Rede war von rund 5000 – 7000 jungen Schweizer Frauen pro Jahr (!), die ab Ende der 1940er-Jahre nach England gingen, um dort eine Anstellung zu finden für ein Jahr. Für Frauen gab es damals keine Meldepflicht, darum sind die Zahlen schwankend. Simone Müller hat sich auf die Suche gemacht nach denen, die gegangen sind und in England blieben, viele von den Emigrantinnen von früher leben noch. Elf Frauen hat Simone Müller portraitiert, eine Geschichte liest sich abenteuerlicher als die nächste.

Heute kann man googeln, sich zahllose Videos und Bilder anschauen von den Orten, an die man reisen will oder sogar auswandern möchte. Man kann sich auf Communities mit Gleichgesinnten austauschen, über deren Erfahrungen «chatten», auf Instagram praktisch jede Lebensphase verfolgen, wenn man will. Damals gab es Agenturen, die um die Mädchen mit beschönigten Worten warben und es gab lediglich ein paar Briefe und Erzählungen von einigen, denen es gut ging dort drüben oder die es im fernen Grossbritannien zu einem anständigen Lebensstil gebracht hatten. Viele sind zurückgekommen, viele aber auch nicht. Sie haben geheiratet und Kinder bekommen oder Kinder bekommen und nicht geheiratet, was dem Status eines «gefallenen Mädchens» gleich kam. Diskriminierend auch die Tatsache, dass eine Schweizer Frau zu der Zeit ihren Pass abgeben musste, wenn sie einen Ausländer im Ausland heiratete. Sie bekam im Gegenzug nicht den Pass des Ehemannes und war staatenlos, wenn sie nach Hause kommen und Verwandte besuchen wollte. Die Schweiz war nicht gnädig mit denen, die es wagten, sich um ein besseres Leben woanders zu bemühen. Viele der Mädchen, die gingen, kamen aus eher ärmlichen Schweizer Verhältnissen oder wenigstens ganz einfachen ländlichen.

Das Buch «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England» ist eine Hommage an diese vergessenen Schweizer Emigrantinnen. Wunderbar geschrieben, wer nur ansatzweise in jungen Jahren mit dem Gedanken gespielt hat, es ähnlich zu tun oder sogar getan hat, wird sich in die schönen Ladies einfühlen können. Ich bin selbst als 19-Jährige direkt nach dem Abitur in die USA gereist, meine erster Langstreckenflug überhaupt, in der Tasche einen Brief von meiner Gastfamilie, dass sie sich auf mich freuen und das Versprechen, man würde mich am Zielort Chicago am Flughafen abholen. Meiner Familie schrieb ich ab und zu, alle vier Wochen leistete ich mir ein Telefonat über den Teich. Ich wäre fast in der «Windy City» geblieben, allein die Liebe zog mich dann doch zurück in die Heimat, damals Norddeutschland. Ich bewundere den Mut und die Gradlinigkeit jeder einzelnen Frau, die in diesem Buch auch mit vielen einfühlsamen Fotos von Mara Truog portraitiert wurde.

 

«Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England»

Simone Müller

Limmat Verlag ISBN 978-3-85791-845-2

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