Thomas an der Aare zu treffen, überraschte mich, noch viel mehr versetzte mich sein Aufzug in Staunen: Er trug eine bunte, enge Sporthose, ein Muscle-Shirt mit Markenlogo auf der Brust, neonfarbene Laufschuhe und ein wahrscheinlich über Funk mit seiner Smartwatch gekoppeltes Pulsmessgerät.

Früher war er auch stets in zu engen Sachen unterwegs gewesen, was jedoch dem Umstand geschuldet war, dass hiesige Herrenausstatter maximal Grösse XL führten. Der Mann, der mir jetzt gegenüberstand, war ein neuer Thomas, der Tom 2.0 quasi, beziehungsweise der Thomas 0,5, denn was da während unseres kurzen Schwatzes ungeduldig an Ort joggte, um den Puls im anaeroben Bereich zu halten, war höchstens noch die Hälfte dessen, was ich als meinen alten Schulfreund in Erinnerung hatte.

«Du musst unbedingt Sport machen, würde Nadja jetzt sagen», schlug er mir mit einem Hauch von Verachtung in der Stimme um die Ohren, den Blick starr auf meinen Abdominalbereich gerichtet. Dann scannte er mich schneller als ein erfahrener Zollbeamter es mit Flugreisenden tut und listete meine Fitnessdefizite mit der Erbarmenslosigkeit eines Scharfrichters auf. «Wer ist Nadja?», frug ich. «Mein Personal Trainer. Ehemalige rumänische Leistungssportlerin. Olympionikin. Die weiss, wovon sie spricht.» «Der Sport und ich, wir können nicht so gut miteinander», gab ich etwas kleinlaut zu. «Damit allein ist es noch nicht gemacht: Jeden Tag Laufen und Radfahren für die Kondition, Muskelaufbau im Studio, sechs Tage die Woche, proteinreiche Ernährung, kein Fett, kein Zucker, kein Alkohol, kein Nikotin. Alles strengstens nach Nadjas Plan.» «Und wenn du mal ein bisschen sündigst?» «Das merkt sie sofort und lässt mich extra schwitzen.»

Beim Blick auf die Multifunktionsuhr erschrak er wie ein Jungschauspieler in einem schlechten Horrorfilm: «Ich muss los, sonst komme ich zu spät zum Training. Man sieht sich!» Dann gab er sich die Sporen. «Und wie geht’s Renate?», rief ich dem Flüchtigen hinterher. «Wir sind geschieden!», schrie dieser zurück.  «Wieso das denn?» Ich liess meine Kasernenhofstimme erschallen. «Ich hielt es nicht mehr aus mit dieser Xanthippe. Sie war dauernd am Nörgeln, hatte Ansprüche und sagte mir, wie ich zu leben habe …» Schrie’s und rannte um sein Leben, um rechtzeitig unter Nadjas Fuchtel anzukommen.

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