Schweizer Handwerk geniesst im In- und Ausland einen hervorragenden Ruf. Swissness ist im Trend. Der Begriff steht für Tradition, Qualität, Handarbeit.

VON MAJA HARTMANN

Die Rückbesinnung auf alte Traditionen und Fertigkeiten verleiht vielen fast vergessenen Handwerksberufen heute eine enorme Faszination. Doch wer kennt heute noch eine Korbflechterin, einen Geigenbauer oder einen Schuhmacher?

Hufschmied/in EFZ

Hufschmied/in kann in der Schweiz noch erlernt werden.

 

Mit den ersten Speerspitzen aus Feuerstein begann in der Steinzeit die Geschichte des Handwerks. Zum ersten Mal gab es unter den Menschen Spezialisten für bestimmte, anspruchsvolle Tätigkeiten. Bis zum Mittelalter entstanden so die verschiedensten Handwerke. Es war die Blütezeit handwerklicher Berufe. Doch viele von ihnen kennen wir heute nicht mehr. Denn ab dem 18. Jahrhundert veränderte sich das Wirtschaftssystem zunehmend. Die ersten Fabriken entstanden und Maschinen begannen die Arbeit der Menschen zu übernehmen. Diese Wende läutete den Niedergang Tausender Handwerke ein.

Nicht nur dass die industriell produzierten Güter viel billiger waren und somit den Handwerkern ihre wirtschaftliche Grundlage entzogen. Die handwerkliche Arbeit verlor auch immer mehr an gesellschaftlichem Ansehen. Doch genau in dieser Hinsicht erlebt das Handwerk heute eine wahrhaftige Renaissance. In einer Zeit, in der wir immer weniger Bezug zur eigenen Arbeit verspüren, weil sie immer digitaler und abstrakter wird, entsteht eine neue Sehnsucht nach traditionellem Handwerk. Es ist eine Sehnsucht nach Langsamkeit und Sorgfalt, nach Geschichte und Verwurzelung. Und eine Sehnsucht danach, wieder Stolz auf die eigene Arbeit und das eigene Produkt verspüren zu dürfen. Doch wie steht es um die Zukunft der vielen alten und vom Aussterben bedrohten Berufe tatsächlich?

Als Kulturerbe anerkannt

Spätestens seit 2008 ist die Erhaltung von Handwerksberufen, die zu verschwinden drohen, ein bundesweites politisches Anliegen. 2008 hat die Schweiz nämlich das «Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes» der UNESCO unterzeichnet und sich damit verpflichtet, die Massnahmen zur Erhaltung traditioneller Handwerkstechniken zu stärken – zählen diese doch zum «immateriellen Kulturerbe» des Landes. Sie sind wichtig für unser Selbstverständnis und prägen bis heute das Erscheinungsbild ganzer Regionen. Doch wie kann man ein nicht greifbares, nicht in Büchern oder Dokumentarfilmen überlieferbares Kulturerbe bewahren? Nur indem man es weiterhin ausübt und die Fertigkeit an jüngere Generationen weitergibt. Darum werden beispielsweise im Rahmen der staatlichen Kulturförderung heute Kurszentren, Vereine oder Museen vermehrt unterstützt, die Kurse für seltene Handwerkstechniken anbieten. Der Erfolg der Veranstaltungen gibt dem Programm recht: Anbieter, wie beispielsweise das Kurszentrum Ballenberg, verzeichnen eine rege Nachfrage. Ob im traditionellen Scherenschnitt, im Polstern oder im Bogenbauen – die Handwerkskurse sind bestens besucht, wenn nicht gar ausgebucht.

Der Beruf der Korbflechterin, des Korbflechters ist noch erlernbar

Der Beruf der Korbflechterin, des Korbflechters ist noch erlernbar

Anpassungsfähigkeit ist gefragt

Doch eine Tradition als solche zu bewahren, ist das eine. Von einem traditionellen Handwerksberuf zu leben, das andere. An diesem Punkt sind Innovation und Anpassungsfähigkeit anstelle von Nostalgie und Konservierung gefragt. In gewissen Nischen hat sich ein solcher Markt bereits etabliert. Nämlich dort, wo Individualität und Qualität wichtiger sind als der Preis. Vor allem in den Luxussegmenten der Uhren-, Möbel- und Autoindustrie haben sich viele Schweizer Traditionsbetriebe über Generationen hinweg einen Namen gemacht und fertigen heute noch weltweit gefragte Produkte in Handarbeit und kleinen Stückzahlen. Auch die Tourismusbranche bietet traditionellem Handwerk zunehmend Entfaltungsmöglichkeiten. Hier heisst das Stichwort Kulturtourismus. Dieser wachsende Trend ist ausgerichtet auf die Verbindung von Reisedestinationen mit den vor Ort gepflegten Traditionen. So kommt es nicht selten vor, dass das Erlernen alter Handwerkstechniken – wenn auch nur oberflächlich – zum Reiseprogramm gehört. Anstatt ins Museum werden die Besucher auch vermehrt in handwerkliche Betriebe geführt, wo sie die tatsächliche Fertigung eines lokalen Produkts miterleben und dieses anschliessend auch kaufen können.

Neue Perspektiven

Doch Experten sind überzeugt davon, dass nicht nur Nostalgie und Alpenromantik dem traditionellen Handwerk in Zukunft ein Überleben sichern werden. Die Rettung wird noch aus einer ganz anderen Richtung kommen. Von dort nämlich, wo das Bedürfnis nach nachhaltigen und ökologisch verträglichen Wirtschaftsformen immer lauter wird. Da bietet das traditionelle Handwerk Vorteile, die nicht von der Hand zu weisen sind. Erstens leben und arbeiten diese Handwerkerinnen und Handwerker meistens nah an ihren Kunden. So finden die Produktion und die Wertschöpfung innerhalb des lokalen Gemeinwesens statt und lange, umweltschädliche Transportwerge von Produkten fallen weg. Zweitens wird das Problem der Überproduktion minimiert, denn die handwerkliche Produktion ist auf geringe Stückzahlen und individuelle Anfertigungen ausgelegt und kann viel genauer auf die tatsächliche Nachfrage reagieren. Drittens haben die mit traditionellen Handwerkstechniken hergestellten Produkte einen grossen Vorteil im Vergleich zu den meisten industriell produzierten Gütern: Man kann sie reparieren, anstatt sie wegzuwerfen.

Bestandsaufnahme traditioneller Handwerksberufe

Um das Bewusstsein für das typisch schweizerische Handwerk zu stärken, wurde im Auftrag des Bundesamtes für Kultur zusammen mit Experten des Kurszentrums Ballenberg ein Inventar der sogenannten «lebendigen Traditionen» der Schweiz geschaffen. Die online zugängliche Datenbank zählt 307 Handwerke. Davon sind gerade einmal 137 heute noch als Berufe erlernbar. Rund 80 traditionelle Handwerke werden als «hoch gefährdet» eingestuft, 23 sind bereits ausgestorben. Die Datenbank bietet ausserdem Informationen
zu den einzelnen Berufen: ihre regionale Verbreitung, eine Beschreibung der wichtigsten Tätigkeiten und die Anzahl Akteure, die sie heute noch ausüben. Die Liste wird laufend aktualisiert und mit Informationen zur Aus- und Weiterbildung ergänzt.