Hier ein Termin, da eine Whatsapp-Nachricht, dort ein Anruf und dann noch die vielen E-Mails: Der moderne Mensch scheint so beschäftigt zu sein, dass die Tage vorübergehen, ohne dass er sie wirklich wahrnimmt. Für die besonderen Momente, die einen atemlos werden lassen, haben wir offenbar schlicht keine Zeit mehr.

VON ERIK BRÜHLMANN UND MARIUS LEUTENEGGER

Es ist der 5. Spieltag der Bundesliga-Saison 2004/2005. Schalke 04 hat gerade in einem hochdramatischen Spiel Borussia Mönchengladbach mit 3:2  geschlagen. Die «Arena auf Schalke» in Gelsenkirchen, schon das ganze Spiel über ein Hexenkessel, explodiert in Jubelgesängen. Mittendrin Eddy Achterberg, der Niederländer, der kurz vor dem Spiel unverhofft zum Interimstrainer befördert worden war. Ein Reporter hält ihm ein Mikrofon unter die Nase, fragt, wie sich das anfühle. Achterberg antwortet, sichtlich mitgenommen: «Hühnerfell!»

In extremis
Gänsehautmomente wie dieser sind es, die das Leben ausmachen. Sie sind unplanbar, überkommen einen einfach. Im riesigen Fussballstadion, am Ufer eines stillen Sees, während eines Lieds, bei einer unverhofften Begegnung. Doch wir leben in einer Welt, die nicht mehr auf kleine Momente, sondern auf Extreme ausgerichtet ist. Alles ist «mega», «giga» oder das grösste, beste, schnellste «aller Zeiten». «Bis zu einem gewissen Grad haben wir das Kleine aus den Augen verloren», sagt Katja Rost, Soziologin an der Universität Zürich. Dazu beigetragen haben ein gesellschaftlicher und ein technologischer Trend:  ie Globalisierung und die Digitalisierung. Während früher der Fokus auf dem Dorf oder der unmittelbaren Umgebung lag, richtet er sich heute – Internet sei Dank – immer gleich auf die ganze Welt. News, Informationen und Eindrücke sind jederzeit erhältlich und wollen, ja, müssen abgerufen werden. Die Gesellschaft sei durch die beiden Trends, so die Soziologin, zu einer «Winner Takes It All Society» geworden. Und wer will schon nicht gern ein Gewinner
sein? Man muss eigentlich nur zur rechten Zeit am rechten Ort sein – also allzeit bereit und erreichbar.

Spielzeuge ohne Bedienungsanleitung
Dennoch stellt sich die Frage, weshalb wir uns scheinbar lieber mit dem Bildschirm als mit den Menschen um uns herum beschäftigen. «Mit der Digitalisierung haben wir zwar tolle Gerätschaften und Tools erhalten», sagt Katja Rost. «Allerdings hat uns niemand erklärt, wie wir damit vernünftig umgehen sollen.» Soll heissen: Jedes neue Gadget wird erst einmal in seinen Möglichkeiten so weit es nur geht ausgereizt. Erst wenn man sich daran gewöhnt hat, setzt eine Normalisierung im Umgang damit ein. «Studien zeigen zum Beispiel, dass Jugendliche bereits weniger Zeit auf sozialen Medien verbringen als Erwachsene », sagt die Soziologin. Zudem gelänge es ihnen immer besser, die digitale Zeit bewusst zu begrenzen, auch wenn das nicht bedeutet, dass sie weniger online sind als Erwachsene. Die Technik gehört heute zum Alltag, und daran wird sich auch nichts mehr ändern. Doch Jugendliche fangen an, die Technik bewusster zu nutzen und sich nicht einfach vom digitalen Strom mitreissen zu lassen.

Real bleibt wichtig
Immerhin: Studien zeigen deutlich, dass trotz aller Digitalisierung die reale Welt nicht an Wichtigkeit verloren hat. Soziale Netzwerke, die bei Bedarf auch wirklich tragfähig sind, werden nach wie vor im direkten Umfeld und nicht etwa in Social Media geknüpft. Bei virtuellen sozialen Netzwerken – sogenannten «weak ties» – geht es oft nur darum, Gelegenheiten aller Art zu ergreifen, Informationen auszutauschen usw. Solche Netzwerke verändern sich ständig und sind nicht von der Nähe ihrer Mitglieder abhängig, können also ideal virtuell unterhalten werden. Die Grenzen zwischen realem und digitalem Leben verwischen dennoch immer mehr. Es sei daher, so die Soziologin, an der Zeit, von traditionellen Definitionen und Abgrenzungen Abschied zu nehmen. Dass es dereinst digitale Gänsehautmomente geben wird, hält Katja Rost dennoch für unwahrscheinlich: «Die virtuelle Welt kann die reale nicht ersetzen!»

Die Ablenkung ist griffbereit
Das ändert nichts daran, dass wir allzu oft die Aufmerksamkeit auf den kleinen oder grossen Bildschirm richten. Katja Rost spricht gar von einer Abhängigkeit. «Bei Digital-Detox-Seminaren zeigt sich dies manchmal deutlich. Zwei Tage ohne Internet – da kann es schon vorkommen, dass Teilnehmende sich irgendwo ein öffentliches Netzwerk suchen, um wenigstens ihre E-Mails abzurufen.» Auch die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit habe im Vergleich zu früher abgenommen. Das iPhone ist eben immer griffbereit, und wenn man sich einem Moment vermeintlicher Langeweile ausgesetzt fühlt, ist es schnell griffbereit und sorgt für Ablenkung. Auch wenn während des Konzerts die Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, das Geschehen mit dem Handy aufzunehmen, zeigt sich: Viele haben verlernt, den Moment zu geniessen. Auch Katja Rost hat sich eine tägliche Dosis Digital Detox verordnet: «Ich nehme jetzt vermehrt das Fahrrad anstelle des Autos. So werde ich quasi gezwungen, auf das iPhone zu verzichten – und habe erst noch viel mehr Zeit, um schöne Momente zu erleben.»

Zeit schenken
Keine Zeit haben für besondere Momente? Ein Zustand, den die Reformierte Kirche Kanton Zug ändern möchte! Seit 2014 setzt sie sich das Legislaturziel, eine «Zeit schenkende Kirche» zu sein. «Zeit zu haben und sie anderen Menschen zu schenken, ist schliesslich ein Alleinstellungsmerkmal der Kirchen», findet Kirchenratspräsident Rolf Berweger. Die Kirchen gehörten immerhin zu den ganz wenigen Organisationen, die nicht den Grossteil ihrer Zeit damit verbringen müssen, auf die eine oder andere Weise Gewinne zu erwirtschaften. «Aber das ist heutzutage derart ungewöhnlich, dass man es in den Legislaturzielen schriftlich verankern muss, damit die Mitarbeitenden danach leben», so Berweger. Eine Pfarrperson oder ein Sozialdiakon, ist er  überzeugt, muss die Freiheit haben, mit jemandem einen Kaffee zu trinken und zu diskutieren, ohne ständig auf die Uhr schauen zu müssen. Es seien
diese kleinen Momente und Gesten, die den Menschen in Erinnerung blieben und für die sie sich anschliessend bedankten.

Zeit schenken ist schwierig
Nicht ständig im Hamsterrad zu sitzen, sich Zeit zu nehmen und anderen Menschen Zeit – und damit potenziell besondere Momente – zu schenken, erwies sich als ein Konzept, mit dem nicht alle Mitarbeitenden von heute auf morgen zurechtkamen. «Manchen muss ich noch nach fünf Jahren auf die Finger klopfen, weil sie sich ständig überfordern und neue Projekte anstossen, ohne andere abzugeben», sagt der Kirchenratspräsident. Dabei zeigte sich auch bei den Zuger Reformierten, wohin Überforderung führen kann. Kurz vor der Einführung des Zeitschenkens hatten sich die Burnout-Fälle gehäuft. «Das
hat sich seither extrem gebessert», so Berweger. Aber heisst es nicht: Müssiggang ist aller Laster Anfang? Und befand nicht der Heilige Benedikt, dass Müssiggang gar der Feind der Seele sei? Berweger: «Zeit schenken ist aber nicht dasselbe wie Müssiggang! Man schenkt aktiv seinem Nächsten Zeit, und man schliesst sich selbst dabei ein.» Damit verschafft man den Menschen zwar auch nicht mehr Zeit als die 24 Stunden, die man nun einmal jeden Tag zur Verfügung hat. Aber man schenkt ihnen die Möglichkeit, die Überholspur des Lebens für eine gewisse Zeit zu verlassen, auf der Raststätte innezuhalten und, wie es so schön heisst, «achtsam im Moment zu leben».

Carpe momentum!
Achtsamkeit ist aber nicht nur etwas für Religionen oder gar Esoteriker. Jon Kabat-Zinn, einer der Pioniere der Achtsamkeitsbewegung, ist ein Mann der Wissenschaft. Der Molekularbiologe entwickelte seine Achtsamkeitsprogramme zur Reduktion von Stress und erforschte die Zusammenhänge zwischen körperlichen Zuständen und geistigen Aktivitäten. «Es geht letztlich einfach darum, sich dem Leben wieder nah zu fühlen und zu sich selbst zu finden, ohne von anderen kritisiert, bewertet definiert oder gemessen zu werden», sagt Ursula Popp, Dozentin am Lassalle Haus in Bad Schönbrunn (ZG). Achtsamkeit bedeutet, wieder zu erkennen, dass es mehr gibt im Leben als Handy, iPod, Computerbildschirm, Termine und Verpflichtungen. Immer mehr Menschen versuchen, sich diese neue Einstellung in Fasten- oder Meditationskursen anzueignen. Immer geht es darum, sich von den Versuchungen, Überforderungen und Ablenkungen des Alltags frei zu machen und zu lernen, einfach nur zu sein; den Moment zu erleben und sich von ihm überwältigen zu lassen.

Erleben, nicht zusehen
Und das Bedürfnis nach Gänsehautmomenten ist gestiegen, ist Ursula Popp überzeugt. «Das zeigt sich in all diesen Bemühungen, das Besondere in Extremaktivitäten zu finden. Das ist eine Folge davon, dass wir uns der kleinen Gänsehautmomente des Alltags nicht mehr bewusst sind.» Allerdings findet man auf diese extreme Weise allenfalls einen Kick, der mit der Zeit mehr und mehr verblasst. «Besondere Momente kann man eben nicht herstellen, sie werden einem geschenkt», so Popp. Und diese Momente sind immer einmalig und nicht reproduzierbar, weshalb ein Sonnenuntergang auf YouTube auch nie dasselbe ist wie ein Sonnenuntergang in der Natur. Popp: «In der Realität berührt einen die Erlebbarkeit des Wunders in seinem Aussehen, seinen Gerüchen, Geräuschen und Gefühlen. Man kann den Sonnenuntergang nicht zurückspulen, sondern nur in diesem einen Augenblick geschehen lassen und erleben – und sich bewusst sein, dass sich derselbe Sonnenuntergang am nächsten Tag ganz anders anfühlen wird.»