Ich bin 75. Ich gehöre zur verwöhntesten Generation, die je ins Alter kam. Wir haben tüchtig gearbeitet, sicher.

Verwöhnt hat uns der Weltlauf. Stets ging es aufwärts: mehr Komfort, mehr Sicherheit, mehr Geld, mehr Freizeit etc. Die meisten von uns sind gesünder,  mobiler, reicher, als es Alte je waren. Und wir haben, mit etwas Glück, noch manche solche Jahre vor uns.

Also Schluss mit dem therapeutischen Ton. Alte sind keine verschupfte Randgruppe, die zu begünstigen, zu betreuen, zu hätscheln wäre. Senioren können sich (wechselweise) selber helfen. Das Bild vom «aktiven Alten » galt bisher für Leute, die sich permanent selber in Bewegung setzen, mal in den kanadischen Wäldern, mal in Schlauchbooten im Berner Oberland. Wie wäre es, wir würden noch etwas mehr bewegen als uns selbst? Nicht aus Moral, sondern weil es Sinn macht. Sinn entspringt (auch im Alter) nicht der rastlosen Suche nach Erlebnissen. Sinn steckt im Mitwirken an etwas, das bedeutender ist als mein kleines Ich. Persönlich habe ich das Glück, noch gebraucht zu werden, als Autor, als Redner. Bin ich demnächst nicht mehr gefragt, werde ich in der Schule meiner Gemeinde nachfragen: Habt ihr mir ein paar Balkan-Kids, mit denen ich Mathe oder Deutsch üben kann?

Was ist das Problem des Alterns? Die Gelenke, klar. Bei mir die Lunge, ich rauchte etwas gar viel. Das Hauptproblem aber ist die Zeit. Meine Zeit läuft ab. Meine Zukunft schrumpft. Dagegen hilft keine Betriebsamkeit, insgeheim weiss ich: Letztlich bin ich nicht zu retten. Was mich trotzdem rettet: mein Interesse an der Zukunft anderer. Zum Beispiel der Balkan-Kids, denen ich helfen kann, sich Mathematik zuzutrauen, zuversichtlicher erwachsen zu werden. Ich werde deren Zukunft nicht erleben, aber ich bin beteiligt an ihr. So bin ich nie allein mit meiner Galgenfrist. Ich wirke mit an einer Zukunft, auch wenn die nicht mehr meine sein wird: der Zukunft der Enkel, der Zukunft der Poesie, der Zukunft der Bienen …

Die bestgelaunten Alten, die ich kenne, sind beschäftigt – nicht bloss mit sich, sondern mit Dingen, die auch andern etwas bedeuten. Eine 82-Jährige hilft im Blumenladen aus, ein 72-Jähriger chauffiert Behinderte, drei 75-Jährige beleben die Quartier-Beiz. Wer sich nützlich macht, gehört dazu. Wer dazu gehört, bleibt im Spiel, ist Akteur, fühlt sich nicht überflüssig, fällt nicht in Sinnkrisen. Tönt verdächtig einfach. Ist wohl auch so. Der sogenannte Sinn will nicht gross gesucht werden. Er liegt vor der Haustür. Man entgegnet mir oft, es könnten aber gar nicht alle Alten weiter arbeiten. Ich rede von «Tätigsein», nicht von «Arbeiten». Mitwirken statt ausklinken. Dazu mögen manchen die Kräfte fehlen. Für alle andern gibt es die famosen Seniorenräte. Sogar in Zollikon, wo ich wohne, organisieren sich «Senioren für Senioren» – nach der Devise: Wir sind nicht länger Passivmitglieder der Gesellschaft, wir sind Akteure, wir nehmen die Probleme unserer Alterswelt selber an die Hand. Jeder von uns kann etwas: gärtnern, kochen, musizieren, wirten, autofahren, reparieren … Setzen wir all das wechselweise ein, schlafen wir besser. Wir vereinsamen nicht. Wir haben es lustiger. «Sinn» heisst, wie gesagt: eine Bedeutung auch für andere haben.

Was haben wir doch Glück, wir Alten heute: Die meisten sind frei, lange noch bei Kräften, finanziell unabhängig. Nutzen wir die feudale Chance, wirken wir im eigenen Auftrag mit, engagieren wir uns statt abzuhängen, werden wir Mitspieler statt Endverbraucher unserer Lebenschance, spielen wir eine Rolle auch für andere – nicht aus Altruismus, eher aus reziprokem Egoismus. Die Resonanz der anderen wird uns reich entschädigen. «Es gibt kein Glück», sagte Arthur Schopenhauer, «ausser im Gebrauch meiner Kräfte.» Welche Kräfte wir noch haben, ist egal. Hauptsache, wir setzen sie ein – statt sie zu pensionieren.

Ludwig Hasler, Philosoph & Physiker. Sein jüngstes Buch: «Für ein Alter, das noch was vorhat», Verlag rüffer & rub, 2019