Imagination ist unsere stärkste Waffe gegen Einsamkeit und Isolation. Was riechen Sie, wenn Sie die Augen schliessen? Philippe Claudel hat aus dieser Magie ein wunderschönes Buch gemacht.
VON DÖRTE WELTI
Es mag einige unter Ihnen geben, die haben das bereits erlebt. Die wissen was es heisst, tage-, wochen- oder vielleicht sogar monatelang ihr Haus nicht verlassen zu können. Die eventuell sogar eingesperrt leben mussten oder in einem Flüchtlingscamp ausharren mussten, bis sie wieder frei leben konnten. Solche Situationen hatte Philippe Claudel nicht unbedingt im Sinn, als er 2012 sein Buch «Der Duft meiner Kindheit» schrieb, im französischen Original heisst das Werk «Parfums» (Editions Stock). Claudel schreibt und führt aber auch bei Filmen Regie. In seinen Büchern merkt man das, besonders in diesem, wo jeder Satz das Kopfkino anwirft (an dieser Stelle eine tiefe Verbeugung vor der Übersetzerin Ina Kronenberger). In 63 alphabetisch nach Duft sortierten Geschichten erzählt der im Sternzeichen Wassermann geborene und deswegen mit viel Phantasie ausgestattete Lothringer seine Erinnerungen an das ländliche Frankreich seiner Kindheit. Es sind aber nicht nur Akazien oder Zigarren, die Bilder hervorrufen, es sind auch das Elternhaus, wie es in einer Kirche gerochen hat oder das Schwimmbad. Nur zwei Sätze als Beispiel:
«An einem kalten Nachmittag im Winter, gegen fünf, als der Tag bereits kapituliert und sich in einer milchigen Suppe mit der Farbe von Eisenspänen und Asche auflöst, beschliessen wir, das runde Thermalbad von Nancy aufzusuchen…..Die Luft scheint hier zu plätschern in diesem Kirchenschiff ohne Altar, und die Worte und alles Gemurmel lösen sich von dem riesigen kreisrunden Bauch, in dem wir treiben und an die unsichtbare Quelle denken, die dieses wohltuende Wasser durch eine Erdspalte schickt mit seinem heilenden und zugleich fauligen Duft, dem ein Tropfen Chlor eine leicht aggressive Note verleiht, die belebt und berauscht.»
Riechen Sie das? Das Buch ist voll von solchen Bildern, die sich mal drinnen, mal draussen abspielen, das ganze Leben ein olfaktorisches Leporello. Von einer schreibenden Kollegin habe ich eine Fragestellung übernommen, mit der sie gerne Interviews einleitet, besonders wenn sie das Gefühl hat, einen nicht so leicht zugänglichen Menschen vor sich zu haben. Diese Frage öffnet immer wieder die Tür zu den Herzen der Interviewten, weil die wenigsten damit rechnen. Sie fragt: «Wie ist der Geruch Ihrer Kindheit?» Zu 99,9 Prozent zaubert die Frage ein überraschtes Lächeln auf das Gesicht des Gefragten, ich erlebe es selbst (können Sie übrigens nachlesen sogar in der April/Mai 2020 Ausgabe des Magazins 50 plus, unbedingt kaufen, ich verrate hier nicht, wen ich Faszinierendes interviewen durfte). Nur ganz ganz selten huscht ein Schatten über die Augen der Befragten, dann, wenn mit der Frage auch eine Erinnerung hochkommt, die nicht als positiv abgespeichert ist. Viel öfter sind es Erinnerungen an das Lieblingsessen, an den Frühling, an das Land, an warme Sommerhaut, an das Parfum der Mutter oder der Grossmutter.
Gerade jetzt ist Frühling bei uns, die Natur explodiert und wir können trotzt allem raus, vielleicht in einen Garten oder auf den Balkon und die summende Luft einatmen. Vielleicht gelingt es uns damit auch, diese wenig erfreuliche Zeit mit mindestens einem positiven Duft abzuspeichern, weil wir lange nicht mehr so bewusst und intensiv diese Zeichen des Weiterlebens registriert und eingesogen haben. Der Duft der Hoffnung.
Ich lege Ihnen «Der Duft meiner Kindheit» enorm ans Herz, wenn Sie noch etwas extra Gutes tun wollen, bestellen Sie das Buch bei ihrem lokalen Buchhändler, die meisten (also meiner in nächster Nähe zumindest) haben in diesen Tagen einen Hauslieferdienst eingerichtet. Wenn Sie zu Zweit sind, lesen Sie sich aus dem Buch vor. Und erzählen sich gegenseitig von ihren duften Erinnerungen. Jeder positive Gedanke zählt.
Philippe Claudel
Der Duft meiner Kindheit
Rowohlt Verlag ISBN 978-3-463-40644-2