Max schaute auf die beiden Leuchtfarben-Striche.

Stolz, wie resedagrüne Armeesoldaten funkelten sie über seinem Pult an der etwas brüchig-düsteren Pförtner-Wand. Langsam, fast schon genüsslich rubbelte er den grellen Strich weg.

„Da waren’s nur noch eins…“, grinste er.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte er während einer Nachtschicht ausgerechnet: noch 432 Tage bis zur Pensionierung. Dann hatte er grellgrün gestrichelt. Und sich jeden Tag auf die Arbeit in der Pforte gefreut: jeder Tag bedeutete nämlich: ein Strich weniger. Max liebte seinen Job als Mann von Porte 5. Die Leute achteten ihn. Zwei Mal hatte der grosse Chef persönlich bei ihm an die Scheibe geklopft: (einmal am 25-jährigen Betriebsjubiläum, das andere Mal als Emma gestorben war).

Sie wollten ihn einladen beim Firmensport mit zu turnen. Oder sich der Kegelgruppe „die hölzernen Kracher“ anzuschliessen. Er war nicht der Typ. Max war zuverlässig auf seinem Posten. Aber nach der Arbeit ging er nach Hause. Und liess die Fabrik hinter sich.

Als Emma noch lebte, hatten sie jeden Mittwoch und Freitag „Tschau Sepp“ gespielt. Die restlichen Abende hockten sie vor der Kiste. Am liebsten mochten sie „Traumschiff“.  Und träumten davon zur silbernen Hochzeit eine grosse Kreuzfahrt zu unternehmen.

Emma starb vorher. Unerwartet. Hirnschlag.

Max lebte jetzt ein ruhiges Witwerdasein. Er entdeckte die Leidenschaft für Briefmarken. Er sammelte nicht gezielt. Er mochte diejenigen, die ihm – en miniature – die die schönsten Plätze dieses Erdballs zeigten. Und ihn aus der engen Stube in die Welt entführten.

Er schaute dann zur Foto mit der Frau im Silberrahmen: „Ich hol’s nach Emma. Eine Woche nach meiner Pensionierung bin ich weg. Und dann erzähl‘ ich dir jeden Tag, wie es ist…“.

Ungeschickt fuhr er mit seinen klobigen Fingern über die Foto. Und streichelte das Bild.

Er sparte jetzt. Und wenn sein einziger Verwandter und Neffe Ralph ihn spöttisch anmachte: „Aber Onkelchen – in Deinem Alter macht es keinen Sinn, den Rappen zu polieren. GENIESSE DAS LEBEN!“, da reagierte Max mit verächtlichem Schnauben. Ralph war 38. Fuhr eine Harley Davidson. Natürlich alles auf Raten.

Max hatte sich alles klar zurechtgelegt:

An seinem letzten Arbeitstag würde er zu einem kleinen Umtrunk in die Porte bitten. Am Montag würde er dann den Morgen im Bett geniessen: Zeitungslesen und Nescafé…ein Luxus, von dem er immer geträumt hatte. Dann würde er auf die Bank gehen und sich vom seinem Konto Geld für die Reise abheben. Die Kreuzfahrt – vier Monate rund um die Welt –  hatte er dank seiner Sparsamkeit bereits bar bezahlt. Und so noch einen Rabatt herausgeschlagen.

„Es wird wunderbar, Emma“, flüsterte er zur Foto.

Die Kollegen applaudierten, als Max den letzten grellgrünen Strich von der Wand rubbelte. Der Vorarbeiter sagte ein paar nette Worte. Und dass sie ihn alle vermissen würden. Dann brachte ihn ein Firmen-Laster mit all den Blumensträussen und Weinflaschen nach Hause.

Am Montag blieb Max dann im Bett liegen. Allerdings für immer. „Herzstillstand“, diagnostizierte der Arzt. Als der Buchhalter in der Fabrik davon hörte, meinte er: „Die arme Sau – nicht einmal einen Tag Rente!“

Das Ticket für die Kreuzfahrt konnte nicht zurückgegeben werden. Da Neffe Ralph eh ohne Job war und alles erbte, sprang er ein.  Und schipperte vier Monate um die Welt.

Emma (im Rahmen) wurde nicht mitgenommen. Sondern der Metallabfuhr mitgegeben.