Den frühmorgendlichen Pendlerströmen im Bahnhof Bern bietet sich regelmässig ein gesellschaftliches Phänomen, das vor 30 Jahren mit dem Prädikat «der dritten Art» versehen worden wäre.

VON MATS KÜPFER

Prolog: unvergessen ist die Aktion der (zugegeben attraktiven) jungen Ladies in Orange, die den Strom der in den Bahnhof entladenen Individuen in perfekter Verkehrsdienst-Manier rechts und links, auf und ab und ja schön homogen zu kanalisieren versuchten. Jawohl, seit diesem Tag gilt im HB Bern Rechtsverkehr, die Markierungen am Boden geben uns gut schweizerisch die Richtung vor. Und daran soll sich gefälligst jeder halten. Schweiz ahoi! Es wird viel getan in unserem Land. Für alle. Für alle? Zwar zeugt der weisse Fleck im Herzen der Europakarte schon von Unangepasstheit und Eigenwille. Aber Chaos und die daraus resultierende Kraft eines Urknalls waren nie speziell helvetische Tugenden. Also wird der breite Strom gut geführt und alles andere wird zur Grauzone.

Und nun das: einer Elfe gleich schwebt diese Frau, mit himmlischer Ruhe gesegnet oder eben einfach stoisch, hunderten wenn nicht tausenden Pendlern entgegen… auf der falschen Seite notabene. Vom Gefühl her wie ein unwissender Europäer auf einer britischen Autobahn. Gelenkt von vermeintlich sicheren Markierungen am Boden. Sie macht aber nichts falsch. Anarchie?

Wie soll man da verstehen, dass diese Einzelkämpferin nicht gebüsst oder zumindest verwarnt wird? Es sollen sich alle an die neuen Regeln halten. Wer da nicht aufpasst, fällt neben ab. Und genau da wird klar, welch hohe Anforderung an eine moderne Gesellschaft gestellt werden. Zurzeit wird wenigstens noch diskutiert über die Form der Unterstützung von Minderheiten, die sich nicht dem breiten Diktat unterwerfen wollen oder können. Wie lange noch? Die Macht des Stärkeren ist auf dem Vormarsch, in fast allen Bereichen des Privat- und Berufslebens wird mit zunehmend härteren Bandagen gekämpft. Ein simples LIKE ist eine Währung geworden, an der selbst Startups und aufstrebende Künstler wirtschaftlich knallhart vermessen werden. Daumen nach unten ist Schmach und bestenfalls Scham. Schwarz oder weiss, dazwischen gibt’s doch gar nichts mehr.

Und doch existiert sie. Diese grosse Zone zwischen diesen beiden Polen. Um dort zu überleben braucht es aber Geschick und viel Mut. Wird aber Mut eigentlich honoriert? Ja. Ein «Ritter der Strasse» wird an Lebensretter vergeben, der «Prix Courage» als Auszeichnung für Mut in meist sozial heiklen Situationen. Wer aber fühlt mit denen, die gar nicht anders können als Gegenstromschwimmen und Ellbögeln?

Es stimmt mich fröhlich. Das Phänomen im Berner Bahnhof beweist, dass doch noch Rücksicht genommen wird auf Minderheiten. Und zwar in einem erstaunlichen Ausmass. Jeden Morgen teilt die «Gegenstromschwimmerin» wie einst Moses die gehetzten Menschenmassen, oft geht es bei der Vermeidung einer Kollision um Millimeter oder noch weniger. Aber irgendwie funktioniert es. Und stärkt meinen Optimismus. Als Vater einer kleinen Tochter mit Trisomie 21 bin ich halt vielleicht ein bisschen übersensibilisiert gegenüber der Taxierung von Minderheiten oder Individuen mit eigenem Tempo und eigener Wahrnehmung. Und deren Versuch, sich in einem übertakteten Umfeld zurechtzufinden. Wem das nicht möglich ist, dem bleibt meist nur der Rückzug in die Isolation. Oder eben der Marsch gegen den Strom.

Und so werde (zumindest) ich fast täglich Zeuge dieses Aufbegehrens und werde erinnert an die uralte Gegenkraft. Wie es Georg Danzer einmal ausdrückte: «Lieber gegen den Strom schwimmen anstatt erster Klasse fahren im falschen Boot…». Hier geht es aber nicht um Ideologie. Es ist Bern anfangs des 21. Jahrhunderts. Es ist nicht eine einsame Gestalt auf dem Tienanmen-Platz, die gegen eine Panzerkolonne antritt. Wir sind nicht im Krieg. Nein, ist kein Akt der Anarchie. Es ist eine Frau auf dem täglichen Weg in den Alltag. Die Frau ist blind. Hochachtung.