Eine Nation am Verdursten

Damals als ich noch als Knirps die Welt entdeckte, gab es bei uns in der Familie noch Rituale. Für mich waren sie eine Art Rückgrad für den Alltag. Und sie sind es heute noch.

Sie sorgen für Strukturen, geben Halt und fördern die Vorfreude auf Erlebnisse, die man gerne immer wieder geniesst. Rituale sind leider heutzutage schon fast ein Schimpfwort und (fälschlicherweise) der Inbegriff biederen Daseins. Doch davon später. Zuerst zurück in meine Zeit, als ich laufen lernte.

Frau Mama, als stramme Freiburger Bauernstochter gläubige Katholikin, insistierte jeweils, dass ich sie am Sonntag morgen in die Messe begleitete. Mein Vater, allem Katholischen gegenüber kritisch eingestellt, zog es vor, in der Gaststube oder der Gartenbeiz auf uns zu warten. Mich interessierte rund um den nicht ganz freiwilligen Kirchgang weniger das Göttliche (von dem verstand ich damals so wenig wie heute)  als vielmehr das faszinierende Gewusel vorne in der Kirche auf der Bühne, auch Altar genannt.

Da gab’s einiges zu sehen, wenn ein geschäftig hantierender Pfarrer in immer neuen farbenfrohen Schärpen goldene Kelche in die Luft hielt, dazu komische Geräusche von sich gab und viel Rauch in den Raum gewedelt wurde. Später beindruckten mich die aelteren Kollegen aus der Schule, die in ihren lustigen Röcken mit ihren Glöcklein bimmelten und dem geschäftigen Herrn Pfarrer zu Diensten standen. Mir gefiel diese duftend farbige Kirchen-Stimmung mit einer singenden Mutter, die sich ständig bekreuzigte und  nach einer mir nicht nachvollziehbaren Choreographie mal kniete, dann wieder aufstand, sich hinsetzte, um bald wieder auf die Knie zu fallen. Der Charme dieser Inszenierung verflüchtigte sich allerdings dann im Laufe der Jahre. Die Erinnerung an dieses Sonntag-Morgen-Ritual weckt in mir aber immer noch wohlige Gefühle. Denn nach der Kirche gab’s mit Papa (Mama spurtete nach Hause und schob den Sonntagsbraten in den Ofen) einen wunderbar süssen Sirup mit Röhrli am Beizentisch mit seinen Kollegen. Später wurde es dann ein Sinalco oder ein Vivi-Cola inklusive einem Nussgipfel. Und an heissen Tagen kam ein tropfendes Glacé obendrauf. Was mir daran besonders gefiel: wir sassen beieinander. Es wurde diskutiert in der Männerrunde und ich hörte gespannt zu. Der Tisch verband uns. Man hatte Zeit. Die Serviertochter lächelte alle an und verwöhnte mich ab und an mit einem Schöggeli.

Heute sehen die Rituale anders aus. Heute wird der Latte Macchiato im Tram getrunken, das Red Bull schüttet sich der gehetzte Jungmanager an der Bushaltestelle in den Rachen und den Holundersirup kennt sowieso niemand mehr. Die gesamte Nation scheint sieben Tage die Woche am Verdursten zu sein. Ich steige in den Zug und jedermann nippelt wie ein Neugeborenes an einer Flasche Wasser mit Spezialverschluss. Die Bevölkerung scheint ununterbrochen unter akuter Dehydrierung zu leiden und muss sich nonstopp befeuchten. Kürzlich sass ich in der Oper und neben mir hing eine junge Frau konstant am Wassertropf. Nachdem ich mich im Anschluss an die Sterbeszene der Gilda im Rigoletto, während der es unablässig auf dem Nebensitz gurgelte nach dem Befinden der Nachbarin erkundigte und wissen wollte, ob ich den Notarzt rufen sollte, damit er ihr eine Infusion stecken kann, erntete ich bloss ein verständnisloses Kopfschütteln. Die Werbekampagne der internationalen Wasserverkäufer scheint so erfolgreich zu sein, dass es nun auch zum Ritual gehört, während einer Oper die konstante HO2 Zufuhr sicher zu stellen.

Mehr Meinungen gefragt? Besuchen Sie unsere verschiedenen Kolumnen.

 

Ähnliche Beiträge

Diese Webseite benutzt Cookies